Thailand - Geteiltes Königreich

Nach Jahren politischer Wirren 
ist in Thailand nun das Militär an der Macht. Warum kommt das Land nicht zur Ruhe?

Von Jose Manuel Bukhari
bilder von James Nachtwey
Foto von James Nachtwey

Bangkok, Anfang Februar: Hunderte Gegner von Premierministerin Yingluck Shinawatra blockieren den Zugang zu einem großen Wahllokal im Norden der Stadt. In dem Gebäude lagern Zehntausende Stimmzettel. Ein Redner steht auf einem mit Megafonen beladenen Lastwagen und peitscht die Menge an. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Die Demonstranten sorgen seit Wochen für Unruhe in Thailands Hauptstadt. Die meisten von ihnen stammen aus Bangkoks Mittelschicht und Elite. Viele tragen gelbe Mützen, Fähnchen oder Tücher. Gelb ist die Farbe des Königs. Die Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung. Die vorgezogenen Neuwahlen, die einen Tag später beginnen sollen, möchten sie um jeden Preis verhindern. Ihre Begründung: Die Demokratie habe in Thailand versagt. Politiker hätten die Bevölkerungsmehrheit auf dem Land mit Geschenken gekauft. An Wahlergebnisse fühlen sie sich deshalb nicht mehr gebunden.

Nur wenige hundert Meter entfernt herrscht unbändige Wut: Auf einer großen Kreuzung protestieren Hunderte von Unterstützern der Regierung, sogenannte Rothemden, gegen die Blockade des Wahllokals. Plötzlich taucht ein langer Konvoi mit mehreren hundert weiteren Gegnern der Regierung auf. Rothemden und Gelbhemden trennen jetzt nur noch 50 Meter.

Erst schreien sich beide Seiten an, es fliegen Steine, dann plötzlich fallen Schüsse. Verängstigte Menschen rennen in alle Richtungen davon, andere suchen Deckung.

Es folgt Chaos: Auf beiden Seiten wird geschossen. Auch Polizisten bringen sich hinter Betonbarrieren in Sicherheit. Ein deutscher Fotojournalist, der die Eskalation beobachtet, wird später sagen: „Es gab Augenblicke, in denen ich gedacht habe, dass ich das nicht überleben werde.“

Als die Schießerei nach etwa einer Viertelstunde vorbei ist, sind mehrere Demonstranten aus dem Lager der Rothemden verletzt, einige von ihnen schwer. Auch der berühmte Fotograf James Nachtwey, von dem die Bilder auf diesen Seiten stammen, ist verletzt. Eine Kugel hat ihn am Bein gestreift.

Thailands lähmender politischer Konflikt, der das Land nicht zur Ruhe kommen lässt, hat wieder Opfer gefordert. Einige Monate später, im Mai, übernimmt die Armee in einem Staatsstreich die Macht. Später werden die Generäle erklären, dass die zunehmende Gewalt bei den Protesten sie gezwungen habe, einzuschreiten.

TED-Video: Was der Fotograf James Nachtwey sich für seine Bilder wünscht

Seit über einem Jahrzehnt streiten zwei zutiefst verfeindete politische Lager um die Zukunft des Landes und seiner 67 Millionen Einwohner. Auf der einen Seite stehen die Menschen aus dem bevölkerungsreichen Norden sowie viele Stadtbewohner aus den ärmeren Gesellschafts­schichten. Sie fordern ihr Recht auf politische Teilhabe immer stärker ein.

Ihr Gegner ist die traditionelle Elite des Lan­des. Zu ihr gehören das Militär, die Justiz, die Bürokratie, der Palast sowie einflussreiche Ge­schäftsleute und Familien aus Bangkoks ge­hobener Mittelschicht. Sie repräsentieren die oberen Ränge der extrem hierarchischen Gesell­schaft Thailands. Diese Allianz versucht, die Forderungen der Bevölkerungsmehrheit zu­rückzudrängen. Es ist ein Machtkampf, der das Land zu zerreißen droht.

Konflikte zwischen bürgerlichen Politikern und der monarchistischen Elite sind in Thailand nichts Neues. Im Gegenteil: Immer wieder hat die Armee die kurzen Perioden, in denen gewählte Politiker das Sagen hatten, durch Staatsstreiche beendet. Thailand hat seit dem Ende der absoluten Monarchie im Jahr 1932 so viele Putsche erlebt, dass sich Forscher uneins darüber sind, wie viele es genau waren. Nach der am meisten verbreiteten Zählart war der Putsch im Mai die zwölfte erfolgreiche Macht­ übernahme des Militärs in acht Jahrzehnten.

Doch etwas ist neu: Noch nie war die Land­ bevölkerung so selbstbewusst wie jetzt. Der wirtschaftliche Aufschwung hat eine Schicht von einst weitgehend unpolitischen, sich selbst versorgenden Bauern in ländliche Unternehmer verwandelt. Und diese verlangen immer deut­licher, dass der Staat sie dabei unterstützt, ihr Einkommen zu vergrößern. Gleichzeitig hinter­ fragen sie die bestehenden Machtstrukturen ihres Landes.

Das Bild vom ungebildeten Bauern – in Bangkok noch weit verbreitet – ist veraltet.

Der Mann, der diesen Gesinnungswandel geschickt für sich genutzt hat, ist Thaksin Shi­nawatra, der 2001 zum ersten Mal Premiermi­nister wurde. Thaksin, eine Mischung aus Silvio Berlusconi und Hugo Chávez, stammt aus Chiang Mai im Norden Thailands. Mit Mobil­funk­Lizenzen hat er sein Vermögen gemacht.

Er ist ein begnadeter Populist: Als Premier­ minister initiierte er eine Reihe von Entwick­lungsprogrammen für die ländlichen Regionen. Hunderttausende konnten sich so aus der Armut befreien. Aus dieser Zeit stammt auch die bei­nahe kostenlose Krankenversorgung. Viele Thaksin­-Anhänger betrachten sie als seine größte Errungenschaft.

Vor allem in Isaan, der bevölkerungsreichen, aber vergleichsweise armen Region im Nord­osten Thailands, sicherte sich Thaksin so eine gewaltige Zahl von Anhängern. Bei den Wahlen 2005 wurde seine Regierung mit einer Zwei­drittelmehrheit im Amt bestätigt.

In dieser Zeit wuchs in Thailands oberen Schichten jedoch die Abneigung gegen das allge­meine Wahlrecht. Diese Skepsis ist in den letzten Jahren immer stärker geworden und auch heute permanent zu spüren. Thailand sei noch nicht reif für Demokratie, heißt es immer wieder, den Menschen auf dem Land fehle die Bildung, um zu verstehen, was gut für sie und das Land sei.

Chitpas Bhirombhakdi, die 28­jährige mil­liardenschwere Erbin der Singha-­Brauerei und eine der Anführerin der Anti­-Thaksin­-Proteste in diesem Jahr, sagte in einem Interview, vielen Menschen in Thailand fehle „ein wirkliches Ver­ständnis“ von Demokratie, „und das vor allem in ländlichen Gegenden“.

Die Thaksin­-Gegner beharren darauf, dass der ehemalige Premierminister diese im Grunde naiven Menschen durch Stimmenkauf und durch populistische Geschenke dazu gebracht habe, sich gegen die traditionelle Herrschafts­ordnung aufzulehnen.

Tatsächlich ist Thaksin alles andere als ein De­mokrat: Während seiner Regierungszeit überzog er kritische Journalisten mit Verleumdungskla­gen. Wichtige Posten im Staat besetzte er immer häufiger mit Vertrauten. Im Süden Thailands, traditionell eine Hochburg der monarchistischen Demokratischen Partei, griff er hart gegen malai­ische Separatisten durch.

Nichtsdestotrotz wuchs Thaksins Popularität in großen Teilen der Bevölkerung. Die traditio­nelle Elite fürchtete um ihre Macht. 2005 kam es in Bangkok zu ersten Protesten der Gelbhemden, sie unterstellten dem Regierungschef massive Korruption und mangelnden Respekt vor dem König. Thaksin rief Neuwahlen aus. Die Demo­kratische Partei, von den Gelbhemden unter­stützt, boykottierte sie und löste gezielt eine Ver­fassungskrise aus. Königstreue Generäle nutzten das Machtvakuum als Vorwand und putschten den so beliebten wie umstrittenen Politiker im September 2006 aus dem Amt. Thaksin verließ Thailand und lebt seither im Exil in Dubai.

Seitdem wechseln sich beide Lager – Rot und Gelb – mit Demonstrationen, Protesten und Belagerungen ab: 2007 kam eine mit Thaksin verbündete Partei an die Macht. Die Proteste der Gelbhemden ließen nicht lange auf sich warten. Immer wieder kam es zu Straßenschlachten. Bei Explosionen, deren Ursachen bis heute nicht geklärt sind, starben mehrere Menschen. Die Gelbhemden drangen in die Flughäfen der Stadt ein und legten den Flugverkehr lahm.

Per Gerichtsurteil wurde die Regierungspartei schließlich verboten und der Chef der Demo­kratischen Partei, Abhisit Vejjajiva, wurde Pre­mierminister. Bangkoks Elite hatte das Thak­sin­-Lager erneut von den Schalthebeln der Macht verdrängt.

Ihren traurigen Höhepunkt fanden die ge­walttätigen Auseinandersetzungen im Jahr 2010. Seit März waren Zigtausende Demonstranten – dieses Mal aus dem Lager der Rothemden – nach Bangkok gezogen. Viele von ihnen sahen zum ersten Mal, was für eine gewaltige Kluft zwischen der modernen Hauptstadt und den ärmeren ländlichen Regionen herrscht.

Anfangs glich der Protest noch einem Volks­fest. Das Hauptcamp der Demonstranten er­streckte sich kilometerweit durch die gesamte Innenstadt. Auf einer großen Kreuzung, um­ringt von riesigen Shoppingmalls, stand eine Bühne, wie bei einem Konzert. Auf ihr wechsel­ten sich Protestredner und Musikbands ab.

An Ständen verkauften Händler T­-Shirts und CDs. Fotos von Ex­-Premier Thaksin waren über­all zu sehen. Es roch nach Essen: Mobile Gar­küchen aus der gesamten Stadt standen jetzt in dem Protestcamp. Sie verkauften Nudel­ und Reisgerichte sowie scharfen Papaya-Salat, eine Spezialität aus dem Nordosten des Landes. Pick-up-Trucks und Zelte prägten das gesamte Lager: Die meisten Demonstranten schliefen hier.

Ein Verkaufshit waren rote Handklappern aus Plastik. Eine thailändische Erfindung, die sich schon bei den Gelbhemden bewährt hatte: Sie verhindert, dass den Demonstranten vom vielen Applaudieren die Hände schmerzen. Nach jedem Satz der Redner füllte sich die schwülwarme Luft mit ohrenbetäubendem Gejohle und Geklappere.

Die Rhetorik der Rothemden verschärfte sich in dieser Zeit merklich: Viele der Demonstranten bezeichneten sich als „Phrai“ (Leibeigene), die nach Bangkok gekommen wären, um von der „Amaart“ (Aristokratie) Gleichberechtigung zu verlangen.

Doch die ausgelassene Stimmung fand bald ein Ende, immer wieder eskalierten die Proteste. In den folgenden Wochen gab es fast täglich Tote und Verletzte.

Am 19. Mai 2010 schlug die Armee endgültig zu. Truppentransporter durchbrachen die Barrieren aus Bambusstäben und Autoreifen, die Demonstranten an allen Zugängen aufgebaut hatten. Andere Barrikaden hatten die Demonstranten in Brand gesteckt. Pechschwarze Rauchsäulen hingen über der Stadt.

Schwer bewaffnete Soldaten näherten sich dem Protestcamp aus drei Richtungen. Im Kugelhagel starb an diesem Tag auch der italienische Fotograf Fabio Polenghi. Die Soldaten schossen sogar auf Sanitäter, die Verletzten helfen wollten. Auf dem Gelände eines buddhistischen Klosters, das die Regierung zur Sicherheitszone erklärt hatte, wurden sechs Menschen erschossen.

Wütende Demonstranten aus dem Lager der Rothemden verstreuten sich anschließend über die gesamte Stadt. Sie legten in Dutzenden von Gebäuden Feuer. Thailands Hauptstadt ähnelte einem Kriegsgebiet. Das Fernsehen zeigte währenddessen in einer Endlosschleife monarchistische Propagandavideos. Die Behörden verhängten eine nächtliche Ausgangssperre.

Spätere Untersuchungen ergaben, dass Soldaten in dieser Zeit mehr als 170.000 Kugeln verschossen hatten. Forensiker fanden heraus, dass kein einziger der getöteten Demonstranten Schmauchspuren an den Händen hatte. Dass sie in den Stunden vor ihrem Tod eine Waffe abgefeuert hätten, ist damit ausgeschlossen. Die thailändische Armee beharrt jedoch bis heute darauf, nur auf bewaffnete Demonstranten geschossen zu haben.

Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr konnten sich die Rothemden erneut durchsetzen: 2011 wurde Yingluck Shinawatra mit absoluter Mehrheit zur Premierministerin des Landes gewählt, Kritiker bezeichnen sie als die Marionette ihres großen Bruders Thaksin Shinawatra. Drei Jahre später wird auch sie aus dem Amt geputscht.

Heute herrscht in Thailand Angst: Mit ihrer Übergangsverfassung hat sich die Junta die uneingeschränkte Macht zugeschanzt. Armeechef Prayuth Chan-ocha hat ein Parlament eingesetzt, das ihn zum Premierminister „wählte“. Wer die etablierte Ordnung kritisiert, kommt reflexartig mit Artikel 112 des Strafgesetzbuches in Konflikt. Er verbietet es, die führenden Mitglieder des Königshauses zu „diffamieren“, zu „bedrohen“ oder zu „beleidigen“. Auf „Majestätsbeleidigung“ stehen drei bis 15 Jahre Haft. So sichert sich die Elite ihre Macht.

Schon seit dem Putsch 2006 haben die Anklagen unter Artikel 112 drastisch zugenommen. Die Behörden ermitteln derzeit gegen Tausende Verdächtige. Auffällig viele von ihnen sind Rothemden. Doch seit dem jüngsten Staatsstreich im Mai hat sich die Verfolgung Anders­denkender noch weiter verschärft: Anklagen wegen Majestätsbeleidigung sollen zukünftig vor Militärgerichten verhandelt werden. Wer vor einem solchen Gericht verurteilt wird, hat keine Möglichkeit, in Berufung zu gehen.

Amnesty International spricht von einer „be­sorgniserregenden Unterdrückung“. Die Men­schenrechtsorganisation berichtete jüngst im September, drei Monate nach der Machtüber­nahme, von willkürlichen Inhaftierungen, Miss­handlungen und sogar Folter. An den Schulen soll den Kindern noch stärker als ohnehin schon Loyalität zum Königshaus eingetrichtert werden. Der Name Thaksin taucht neuerdings in den Geschichtsbüchern nicht mehr auf.

Gleichzeitig will die Junta eine „wahrhafte Demokratie“ etablieren. Allerdings eine, die „der thailändischen Kultur angemessen ist“: Ein vom Militär eingesetzter „Reformrat“ und ein Verfassungsrat sollen Reformen und die nächste permanente Verfassung ausarbeiten.

Viele Beobachter glauben nicht daran, dass es nach dem Ende dieses „Reformprozesses“ noch ein allgemeines Wahlrecht geben wird. Alles deutet darauf hin, dass es im zukünftigen Parlament nach Berufsgruppen reservierte Sitze geben wird. Nur ein Fünftel der Bevölkerung würde dann bestimmen, wer jeden zweiten Par­ amentssitz bekommt – eine Kernforderung der Thaksin­-Gegner. Auch die Armee könnte sich, ähnlich wie im benachbarten Burma, einen Teil der Sitze im Parlament reservieren.

Ein solches halbautoritäres System, das an Thailand in den achtziger Jahren erinnert, würde verhindern, dass Thaksin Shinawatra und seine Verbündeten durch Wahlen die Macht erlangen. Die traditionelle Elite hätte ihr Ziel erreicht.

Vorerst. Denn es ist fraglich, ob sich die Mehrheit der Bevölkerung damit abfinden wird, dass man sie ihrer politischen Stimme beraubt. Vor allem unter den Rothemden wächst die Wut, dass die traditionelle Elite die gewählten Regierungen nicht akzeptiert. Im Moment wagt es niemand, sich gegen das Militär zu erheben. Das Land steht weiter unter Kriegsrecht. Thak­sin selbst hat seine Anhänger aus seinem Exil angewiesen, erst einmal abzuwarten.

Doch Thailand könnte bald politische Tu­multe erleben, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen.

(NG, Heft 11 / 2014, Seite(n) 128 bis 147 )

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