Wrangelinsel - Im Eis zu Hause

Die Wrangelinsel ist eines der am seltensten besuchten und am strengsten geschützten Naturreservate der Welt. Ein Besuch im kalten Paradies der Polartiere.

Von Hampton Sides
Foto von Sergej Gorschkow

Die Wrangelinsel, das kalte Paradies der Polartiere.

DAS ZODIAC-SCHLAUCHBOOT steuert durch den gefrierenden Nieselregen und weicht großen Eisschollen aus, während uns die kräftigen Wogen der Tschuktschensee durchschütteln – auf dem Weg zu einer Küste, die irgendwo da vorne im Nebel liegt.

Unser russischer Führer beharrt darauf, dass es direkt vor uns eine große Insel gibt. Ich habe Zweifel. Doch dann lichtet sich der Dunst, und plötzlich ragt sie vor uns auf, mit einer Schroffheit, die von der Streuung des Lichts in der arktischen Luft noch verstärkt wird: 146 Kilometer lang, lauter goldene Berge, bedeckt mit leuchtenden Tundrablumen. Der amerikanische Naturforscher und Schriftsteller John Muir war der erste Besucher, der die Wrangelinsel beschrieb. Mit lyrischen Worten gab er wieder, was er 1881 sah: eine «großartige Wildnis in unberührter Frische», ein «äußerst einsames» Gebiet am «obersten, tödlich frostkalten Extrem der Schöpfung».

Heute ist die russische Wrangelinsel eines der am seltensten besuchten und am strengsten geschützten Naturreservate der Welt. Wer hier hinkommen will, braucht im Winter einen Hubschrauber, im Sommer einen Eisbrecher. Und dazu jede Menge Genehmigungen der Regierung. Am Ankerplatz in Rodgers Cove wartet Anatolij Rodionow auf uns, ein kerniger russischer Wildhüter in gelblich brauner Tarnkleidung. Er trägt eine Leuchtpistole und eine Dose Pfefferspray bei sich. Rodionow lebt das ganze Jahr hier – so wie einige Kollegen und eine Population gefräßiger Eisbären. Ein wenig wirken sie alle wie Ausgesetzte.

«Privet und Willkommen auf Ostrow Wrangelja», sagt er überschwänglich, mit der Freude eines Mannes, der lange auf Sonne und menschliche Gesellschaft verzichten musste. «Seit neun Monaten nur drei Farben – weiß, schwarz und grau. Ich mag die Winter hier nicht.»

Rodionow führt uns über einen Kiesstrand, der mit den Knochen von Walen und Walrossen übersät ist, nach Uschakowskoje, einer winzigen Geisterstadt aus der Sowjetzeit. Überall liegen rostige Fässer herum. Auf einem schwamm-feuchten, mit Flechten und Moos überzogenen Boden stehen wettergegerbte Hütten, sie dienen nur noch als Feuerholz. Dem Zerfall preisgegebene Radarschüsseln neigen sich gen Meer, und die Halteseile einer Funkantenne singen im strammen Wind. Die Fenster eines russischen Badehauses sind vergittert und mit zwölfeinhalb Zentimeter langen Nägeln bewehrt, um die Bären fernzuhalten.

Die Wrangelinsel wurde 1976 zu einem Sapowednik erklärt, einem staatlich verwalteten Naturschutzgebiet. Es ist eines von Russlands kältesten und entlegensten Wildnisreservaten: Das 7 510 Quadratkilometer große Eiland, über das der 180. Längengrad verläuft, ist so etwas wie eine arktische Version der Galápagosinseln. Trotz des unwirtlichen Klimas – oder genau deswegen – existiert hier Leben in Überfülle. Die Insel ist der größte Eisbären-Kindergarten weltweit. Bis zu 400 Mütter kommen hier Berichten zufolge im Winter an Land, um ihre Jungen in Höhlen aufzuziehen. Da die Eisdecke durch den Klimawandel im Sommer immer brüchiger wird, machen sich Eisbären die Insel häufig auch in dieser Jahreszeit zur Heimat. Auf der Wrangelinsel gibt es ebenfalls die größte Population von Pazifischen Walrossen sowie die einzige Brutkolonie von Schneegänsen in Asien. Hier leben Schneeeulen, Moschusochsen, Polarfüchse und Rentiere sowie Lemminge und Seevögel in großer Zahl. Doch anders als auf dem sumpfigen Festland Sibiriens muss man hier keine Stechmücken fürchten.

Seit alten Zeiten hatte die Wrangelinsel das Glück, am Rande des Polareises zu liegen. Selbst in den jüngeren Eiszeiten war die Insel nie vollständig von Gletschern überzogen. Und wenn das Eis in wärmeren Phasen schmolz, wurde das Innere der Insel nie ganz von Meerwasser überschwemmt. Deshalb bieten die Böden und Pflanzen in den Tälern des Inselinneren einen einzigartigen Einblick in eine seit dem Pleisto­zän ungestörte Tundra, wie es sie nirgends sonst auf unserem Planeten gibt. «Auf der Wrangelinsel kann man Hunderttausende Jahre zurückschauen», sagt Michail Stischow, ein Moskauer Wissenschaftler des WWF, der 18 Jahre auf der Insel gelebt hat. «Es ist ein Ort mit einer uralten, aber sehr empfindlichen Biodiversität.»

Paläontologen glauben, dass die Wrangelinsel auch der letzte Ort ist, an dem das Wollhaarmammut lebte. Eine kleinwüchsige Unterart sogar noch bis 1700 v. Chr., mehr als 6000 Jahre nach dem Aussterben der Mammutpopulationen an anderen Orten. Ihre gebogenen Stoßzähne finden sich überall auf der Insel, an Kiesstränden, in Bachläufen, manche lehnen sogar wie Jagdtrophäen aus einer anderen Epoche an den Hütten der Wildhüter.

Rund 140 Kilometer vor der Küste von Nordostsibirien gelegen, war die Wrangelinsel jahrhundertelang nicht viel mehr als ein Gerücht, ein Phantom, ein nebelumwobener Traum. War es eine Insel, ein Kontinent oder gar der magische Durchschlupf zum Nordpol? Lange Zeit des 19. Jahrhunderts war das damals Wrangell-Land genannte Gebiet eine Art mythisches Thule, ein hypothetischer Ort jenseits der bekannten Welt. Bevor die Existenz der Insel belegt werden konnte, waren ihr bereits nach und nach verschiedene vorläufige Namen gegeben worden: Tikegenland, Plover Island, Kellet Land. Die Wrangelinsel regte die Phantasien der Kartografen an, von denen einige dachten, sie sei ein Fortsatz von Grönland und erstrecke sich direkt über den Pol.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert endete fast jede Forschungsexpedition, die sich nahe der Wrangelinsel in unbekanntes Terrain wagte, verhängnisvoll. Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts berichteten tschuktschische Jäger an der nordostsibirischen Küste dem in russischen Diensten stehenden deutschbaltischen Forschungsreisenden Ferdinand von Wrangel von einem Land, das weit im Norden liege und bei günstigen atmosphärischen Bedingungen zu sehen sei. Wrangel stach in See, blieb aber im Eis stecken und bekam es nie zu sehen. Beinahe 30 Jahre später glaubte der Kapitän eines englischen Schiffes auf der Suche nach Sir John Franklins Expedition, er habe in der Ferne eine große arktische Insel schimmern sehen. Später behaupteten verschiedene Walfänger-Kapitäne, sie hätten sie erblickt – doch das blieb umstritten, da die Arktis legendär ist für derlei Sinnestäuschungen.

Eine 1879 gestartete amerikanische Arktisexpedition kam der Wrangelinsel endlich so nahe, dass ihr Kommandant George Washington De Long erkennen konnte, dass dies kein arktischer Kontinent war. Auch De Long gelang es jedoch nicht, seinen Fuß auf die Insel zu setzen. Sein Schiff, die „USS Jeannette“, wurde vom polaren Packeis zwei Jahre lang festgehalten, bevor es etwa 1290 Kilometer weiter nordwestlich sank. Erst im August 1881 ging eine Gruppe Amerikaner, die mit dem Dampfschiff „Thomas L. Corwin“ in der Arktis nach der verschollenen „Jeannette“ suchte, auf der Wrangelinsel an Land und bewies damit endgültig, dass es sich dabei um ein Stück festen Boden handelte. Der Suchtrupp, dem auch der junge Muir angehörte, hisste die Flagge der Vereinigten Staaten und erklärte die Wrangelinsel im Namen des Präsidenten zu US-Besitz.

Die Seeleute der „Corwin“ tauften die Insel auf den Namen New Columbia, aber diese Bezeichnung setzte sich nicht durch. Im gleichen Jahr veröffentlichte John Muir die weltweit erste Beschreibung der Wrangelinsel in einer Artikelserie für eine Zeitung aus San Francisco, die 1917 als eindrückliche Reisebeschreibung mit dem Titel „The Cruise of the ,Corwin‘“ veröffentlicht wurde.

In den folgenden 30 Jahren wurde die Insel nahezu völlig sich selbst überlassen. Dann begann eine weitere Reihe glückloser Expeditionen: Zuerst die kanadische Arktisexpedition von 1913, deren Besatzung ihre vom Eis zerdrückte Brigantine „Karluk“ aufgeben musste und sich 130 Kilometer über das Packeis schleppte, bis sie auf der Wrangelinsel Schutz fand. Als sie acht Monate später gerettet wurde, waren elf der 25 Mann umgekommen. Ein kanadischer Versuch von 1921, eine Siedlung auf der Insel zu errichten, kostete vier weitere Menschenleben. 1926 versuchte die Sowjetunion, ihre Hoheitsrechte durch eine Zwangsumsiedlung von sibirischen Tschuktschen auf die Wrangelinsel auszudehnen. Eine winzige Ansiedlung hatte bis in die siebziger Jahre Bestand. Nach der Einrichtung des Schutzgebiets wurden die Kolonisten auf das Festland zurückgeschickt.

In dem Gebiet rund um die Insel sind keine bedeutenden Ölvorkommen bekannt, und selbst wenn es sie gäbe, würde die fast das gesamte Jahr vorhandene Eisdecke deren Ausbeutung wahrscheinlich zu schwierig und zu teuer machen. Daher blieb die Wrangelinsel bislang weitgehend unberührt. Durch den Klimawandel und das Ende des Kalten Krieges ist der Zugang zu der Insel in den vergangenen Jahren ein wenig einfacher geworden. Das russische Ministerium für natürliche Rohstoffe und Umwelt hat daher Pläne bekannt gegeben, hier den Ökotourismus zu entwickeln.

Bis dahin jedoch wird die Wrangelinsel Forschern und Tieren vorbehalten bleiben. Wissenschaftler, die hierher zu Besuch kommen, sagen, diese raue Landschaft, die wie ein Geheimnis im hohen Norden verborgen ist, hinterlasse einen tiefen Eindruck bei ihnen. «Ich kam mir vor, als wäre ich an das Ende der Welt geraten», sagt Daniel Fisher, ein Mammutpaläontologe der Universität von Michigan.

«Es ist völlig unberührtes Terrain», sagt Irina Menjuschina, die dort auf 32 Exkursionen Schneeeulen und Polarfüchse studiert hat. «Man fühlt sich den ursprünglichsten Prozessen des Universums so nahe – Geburt, Tod, Über- leben, dem Wachsen und Schrumpfen von Tier- beständen. Jedes Jahr werde ich bei meiner Rückkehr auf die Wrangelinsel erneut von der Arktis infiziert.»

(NG, Heft 11 / 2013, Seite(n) 124 bis 139)

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