Ein Land am Scheideweg: Wie die Zerrissenheit Afghanistans den Taliban den Weg ebnete
Wie konnte Afghanistan in die Hände der Taliban fallen? Bilder aus den letzten Wochen vor der Machtübernahme zeigen den Alltag einer verwundbaren Gesellschaft. Die Reportage erscheint in der neuen Ausgabe des NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins am 27. August.

Eigentlich wollte der 22-jährige Abdul Ghafoor Medizin studieren. Stattdessen wurde er Polizist. Sechs Monate wartete er auf seinen Lohn, wie er erzählt. Im Bild steht er Wache an einem strategischen Außenposten zur Provinzhauptstadt Kandahar, die Flaggen der Taliban bereits in der Ferne im Blick.
Für die Parlamentarierin Raihana Azad war das Leben schon vor dem Machtwechsel gefährlich: Hier fährt sie in einem gepanzerten Wagen zu einer Sitzung am Internationalen Frauentag. Die 38-Jährige überlebte einen Mordversuch sowie ein Selbstmordattentat. Wegen der Rückkehr der Taliban sieht sie keine Zukunft mehr für sich in Afghanistan.
Bilder wie diese wird es in absehbarer Zeit vermutlich nicht mehr geben: Tausende von Hazara, einer Minderheit schiitischer Muslime, versammelten sich in der Provinz Daikondi zum Neujahrsfest Nouruz, dem ersten Tag des Frühlings. Nouruz wird in Afghanistan, im Iran und in Zentralasien gefeiert, doch für sunnitische Extremisten ist der alte persische Feiertag unislamisch. Terroristen haben mehrfach Ansammlungen von Feiernden bombardiert.
Der Ausrüstungsmangel trug zur Schwäche der afghanischen Armee bei. Ohne Fahrzeuge mussten diese Soldaten fünf Stunden bis zur Provinzhauptstadt Faizabad marschieren, nachdem sie vier Wochen an entlegenen Grenzposten in der nordöstlichen Provinz Badachschan stationiert waren. Die Taliban eroberten das Gebiet Anfang Juli und nahmen viele Soldaten und verbündete Milizionäre gefangen.
Die Angst war schon vor der Machtergreifung der Taliban ständig präsent: Familien trauern um Opfer, die am 8. Mai bei einem Bombenanschlag nahe einer Schule in Kabul getötet wurden. Es traf vor allem Mädchen im Teenageralter. Das Viertel Dasht-e-Barchi war einst relativ sicher für die ethnische Minderheit der Hazara. In den letzten Jahren jedoch haben Terroristen Hunderte von Hazara in Moscheen, Schulen, bei Hochzeiten und in einer Geburtsklinik getötet.