Jenseits der Piste

Alpinski ist ein Vergnügen. Doch eine Tour im Tiefschnee, das lernte unsere Autorin in Südtirol, ist noch besser: ein einsames, fantastisches Naturerlebnis.

Von Ines Bellinger
Veröffentlicht am 22. Dez. 2017, 16:08 MEZ
Viel Berg, wenig Mensch: Das macht eine Skitour aus.
Foto von Colour Box

Beim Frühstück im Hotel in Prad ist die Welt noch in Ordnung. Bis zu den Radionachrichten. In Südtirol sind drei Lawinen abgegangen. Zwei Männer sind tot, einer liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Überall in Norditalien wurden Lawinenwarnstufen zwischen drei und fünf ausgegeben; drei bedeutet erhebliche, fünf sehr große Gefahr. Stumm essen wir Müsli und Brötchen. Keiner wagt, die Frage laut zu stellen: Sollen wir wirklich losgehen zu unserer Skitour im Ortlergebiet?

Die gedrückte Stimmung löst sich, als unser Guide Toni Stocker auftaucht. Ein drahtiger Mann, 51 Jahre alt, graue Locken und wettergegerbtes Gesicht. Auch er hat Radio gehört. „Bei Stufe drei sind wir oft unterwegs“, sagt er ruhig. „Das ist kein Problem, wenn man sich auskennt und weiß, wo man hingehen kann. Alle anderen haben abseits der Pisten sowieso nichts zu suchen.“ Wir können ihm vertrauen: Der Vinschgauer ist einer der erfahrensten Bergführer in Südtirol. Er verbringt 250 Tage im Jahr am Berg, war um die 400­mal auf dem Ortler. 

Die Tortur beginnt am Wildgehege in Stilfs. Der Ort an der Passstraße zum Stilfser Joch ist so steil an den Hang gebaut, dass dem Volksmund nach hier sogar die Hühner Steigeisen tragen. Stocker hat für den ersten Tag eine geschützte und – in seinen Augen – einfache Tour ausgewählt. Nicht nur wegen der Lawinengefahr. Wir sind zu siebt, aber drei aus der Gruppe, auch ich, haben noch nie eine Skitour gemacht. Und Tourengehen, das wird sich zeigen, ist eine ganz andere Geschichte, als mit taillierten Ski über glatt gewalzte Pisten zu wedeln.

“Ihr müsst schlurfen, nicht steigen wie die Enten.”

Toni Stocker, Skitour-Guide

Es beginnt schon mit der Ausrüstung. Die Ski sind breiter, weicher und leichter als herkömmliche Alpinski. Die Stiefel sind flexibler, man trägt sie halb offen, wenn man bergan steigt. Beim Aufstieg bleibt die Ferse in der Bindung frei beweglich, bei der Abfahrt wird sie fixiert. Auf die Lauflächen spannen wir Steigfelle. Früher wurden sie aus Seehundfellen gefertigt, heute benutzt man selbst klebenden Fellflor aus Synthetikfasern oder Mohair. Das Wichtigste aber ist die Lawinenausrüstung: ein Lawinenverschüttetensuchgerät, das wir uns mit einem Gurt vor den Bauch binden und mit dem wir im Notfall geortet werden können, und in unsere Rucksäcke packen wir je eine Sonde für die Suche nach Verschütteten und eine Schaufel. 

Es ist gar nicht so leicht, den Rhythmus zu finden. Ich mache den Fehler, dass ich die Knie viel zu weit beuge und bei jedem Schritt den ganzen Ski anhebe. Stocker grinst, als er die Anfänger in der Gruppe beobachtet. „Ihr müsst schlurfen“, sagt er, „nicht steigen wie die Enten.“ Das erste Stück geht es auf einem Waldweg noch gemächlich dahin, doch dann biegen wir in einen Steilhang ein – und bald begreifen wir, was es mit den Steigeisen-Hühnern in Stilfs auf sich hat. Es wird so steil, dass wir die Steighilfe in der Bindung, eine Auflage für die Ferse, ausklappen. Das spart Kraft, jedenfalls für kurze Zeit. 

Stocker geht, man könnte auch sagen: Er rennt voraus. Obwohl er im metertiefen Schnee die Spur für uns legt, scheint ihn das nicht sonderlich anzustrengen. Ich bin schon auf halber Höhe des ersten Steilhangs tropfnass geschwitzt und ringe nach Luft. Was mache ich hier? Warum gondele ich nicht in einem Skilift auf den Berg oder döse im Liegestuhl vor einer Almhütte in der Sonne? Ich muss mich nur umschauen, um meine Zweifel zu zerstreuen. Weit und breit nur Berge, Wald und Schnee. Keine Ski-Gaudi, keine Beschallung mit zweifelhaften Schlagern, keine Endlos-Telefonierer. Das Einzige, was wir hören, ist das Knirschen des Schnees unter unseren Ski, das Quietschen der Stiefel und das eigene Schnaufen.

Wir steigen und steigen. Unsere Spur zieht sich als Serpentine über den Hang. Als wir den Ortler das erste Mal sehen, steckt die Spitze des mit 3 905 Metern höchsten Berges in Südtirol noch in den Wolken. Beim zweiten Mal haben wir beste Sicht auf das Dreitausender-Panorama vor uns: Ortler, Zebrù und Königspitze. Es ist ein majestätischer Anblick. 

Kurz darauf stapfen wir die letzten Meter zu unserem ersten Etappenziel hinauf. Nach dreieinhalb Stunden und 750 Höhenmetern stehen wir auf dem Schafeck.

Jetzt kommt der Teil der Tour, vor dem ich am meisten Respekt habe: meine erste Tiefschnee-Abfahrt. Wegen der Lawinengefahr hat Stocker einen seichten Hang ausgesucht, aber die Bedingungen sind schwierig, der Schnee ist schwer. Einer nach dem anderen fährt ab, ich stehe als Letzte oben. Soll ich abschnallen? Nein, Kneifen kommt nicht infrage. Langsam schiebe ich die Ski über die Hangkante, jetzt gibt es kein Zurück mehr. 

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Geschichte steht in der Ausgabe 4/2017 des National Geographic Travelers. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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