So weit mein Rad mich trägt: Drei Monate durch Westeuropa
Zeit, Freiheit, draußen sein – im Sabbatical entdeckt man das Leben neu. Eine Radtour durch Schottland, Irland und Frankreich.
Was das Schönste an dieser Reise war? Das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben.
Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, nach drei Jahrzehnten im Beruf ein paar Monate lang auszusteigen. Den Alltag hinter mir zu lassen, durchzuatmen, zu mir zu finden. Ausgiebig zu reisen, so wie ich es früher gemacht hatte, ungeplant, jeder Tag ein neues Abenteuer. Ich fahre mit Begeisterung Fahrrad – so stellte sich nie die Frage, wie ich reisen würde. Doch wohin? Einmal quer durch Nordamerika, vom Atlantik zum Pazifik, das war mein Traum. Aber dann entschied ich mich für Europa. Für kleinräumige Landschaften, die Geborgenheit der Städte und Dörfer, das Lebensgefühl der Alten Welt.
Ich hatte eine grobe Vorstellung von meiner Route: mit der Fähre von Amsterdam nach Nordengland, in die schottischen Highlands und auf die Äußeren Hebriden, nach Irland und von dort mit der Fähre in die Bretagne, vielleicht bis zum Mittelmeer und dann zurück nach Deutschland. Alles Weitere sollte sich unterwegs ergeben, so spontan wie möglich. Wie würde es sein, ein Vierteljahr allein zu reisen? Die tägliche Anstrengung zu ertragen. Mal im Hotel, in der Regel aber im Zelt und in einfachen Unterkünften abzusteigen? Würde ich noch tolerant genug sein, im Hostel das Zimmer mit anderen Menschen zu teilen?
Zwei Wochen nach meiner Abreise erreiche ich Mitte Juni die Hebriden-Insel Berneray, Beàrnaraidh auf Gälisch: halb so groß wie Spiekeroog, brettflach, rund 130 Einwohner, ein Laden, eine Kirche. Eine Stiftung betreibt am Strand in zwei alten Landarbeiterhäuschen eine einfache Herberge, weiß gekalkt mit Grasdach. Es gibt drei Schlafräume mit bis zu acht Betten und eine schummrige Küche mit langen Bänken. Dort sitzen an diesem Abend sechs Radfahrer aus Mittelengland und Peter, ein in Australien lebender Kanadier, 70 Jahre alt und auf Weltreise. Wir tauschen Erfahrungen aus, plaudern und lachen bis in die Nacht, dann teilen wir uns alle das Zimmer. Es kommt wie befürchtet: Einer – ist es der Arzt aus Oxford? – hält die anderen mit lautem Schnarchen wach. Aber rasch weicht mein erster Ärger einer tiefen Zufriedenheit. Immerhin habe ich diese Weltenbummler kennengelernt. Versöhnt schlafe ich ein und steige am nächsten Morgen gut gelaunt wieder aufs Rad. Der Wind hat aufgefrischt, weht mit Stärke 5 bis 6 von Süden. Das ist meine Richtung.
Ich gehöre zu den Menschen, die der Alltag auch im Urlaub noch lange im Griff behält. So dauert es rund drei Wochen, bis ich spüre, wie frei ich jetzt bin. Die Sonne scheint, als ich wieder auf dem schottischen Festland unterwegs bin, auf einer schmalen Straße im Westen von Kintyre, einer Halbinsel zwischen Glasgow und Nordirland. Frühsommer, rechts leuchten hellgrün die Hänge und knallgelb der Ginster, gegenüber glitzert das Wasser des Kilbrannan Sound, hinter dem die Insel Arran aufragt. Die Kleinstadt Carradale, mein Etappenziel, ist nicht mehr fern, als ich plötzlich, wie von Zauberhand, eine große Leichtigkeit empfinde wie schon lange nicht mehr. Ich fühle mich, als würde ich schweben. Fliege die Steigungen hinauf, sause jubelnd bergab. Termine, Besprechungen, Ärger – alles weit weg. Und: Ich habe noch neun Wochen vor mir, um die schönsten Landschaften Westeuropas zu erkunden.
Etwa Connemara, eine der einsamen Gegenden Irlands ganz im Westen der Insel. Es ist, als hätte ich sie ganz für mich. Ich treffe kaum andere Reisende, und Einheimische gibt es ohnehin nur wenige. Auf der Karte sind Straßen mit sehenswertem Ausblick grün markiert – und das sind hier fast alle. Ich biege in ein wildes Tal ein. Schroffe Hänge zu beiden Seiten, Gras und Moor, hin und wieder ein See und über allem ein tieftrauriger Himmel. Kein einziger Sonnenstrahl. Stunde um Stunde fahre ich, nichts ändert sich. Ich kann mich nicht sattsehen an der Kargheit.
Ich lasse mir Zeit, während ich über die Grüne Insel fahre, auf einer Schlangenlinie von Nordosten nach Süden. Ich lerne Ennis, die Hauptstadt irischer Musik, kennen. Die windgepeitschte Atlantikküste. Die Stadt Cork, in deren Hafen Cobh ein Denkmal an die „Titanic“ erinnert, die hier im April 1912 zu ihrer ersten und letzten Fahrt aufbrach. Dann nehme ich die Fähre nach Roscoff im Nordwesten Frankreichs, der dritten Etappe meiner Reise.
Hier beginnt die Velodyssée, ein Radfernweg, der über 1200 Kilometer durch die Bretagne, die französische Westküste hinunter bis an die spanische Grenze führt, mal auf eigenen Trassen, mal auf Nebenstraßen, immer wieder an Wasserwegen entlang. Etwa auf dem Treidelpfad des Canal de Nantes à Brest, der über fast 400 Kilometer durch Frankreichs Nordwesten verläuft. Weitab vom Autoverkehr rolle ich entlang der schon unter Napoleon geplanten Wasserstraße, halte immer mal wieder an einer der mehr als 200 Schleusen oder trinke Café au Lait in einem alten Städtchen, dessen Kirchturm mich schon von Weitem anlockte. Die Velodyssée ist Teil eines immer enger werdenden Netzes von Fernwegen, das ich auf dieser Reise oft nutze. Überall weisen Schilder darauf hin, dass sich dort die Europäische Union engagiert, den Radtourismus zu fördern.
In Saint-Nazaire besichtige ich den klotzigen, 300 Meter langen U-Boot-Bunker der Nazis und lese auf Tafeln, welches Leid die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg brachten. Dann fahre ich weiter entlang der französischen Westküste, wo inzwischen die Hochsaison begonnen hat. Durch würzig duftende Pinienwälder, Dünen, weite Marschen. Freie Unterkünfte sind rar, aber mit meinem kleinen Zelt finde ich immer Platz auf einem der von Städten und Gemeinden betriebenen Campingplätze – rechtzeitig, um die Sonne im Atlantik versinken zu sehen.
Einige Tage später lege ich nahe der Gironde-Mündung nordwestlich von Bordeaux eine Pause ein und ziehe in einen 50 Jahre alten lindgrünen Wohnwagen, den Caroline und Hervé für Gäste in ihren großen Garten gestellt haben. Am Abend sitzen wir in der lauen Luft, essen Miesmuscheln und trinken Rotwein aus der Region. Der Sohn ist gerade zu Besuch, er arbeitet als Ingenieur in Brüssel, und eine Haushaltshilfe ist für einige Monate aus Portugal hierher gezogen. Wir diskutieren über Europa, die Wirtschaft, die Krisen, und ich erzähle von meiner Jugend in den Siebzigerjahren, als es nicht selbstverständlich war, als Deutscher von europäischen Nachbarn so freundlich aufgenommen zu werden. Der Sohn mag es kaum glauben: So war es mal?
In Südfrankreich beginnt die Hitze des Sommers. Das Radfahren wird immer anstrengender, ich halte mich lieber nach Norden, entlang der Rhône, dann der Loire und Saône. Voller Lust auf jeden neuen Tag. Und mit dem Gefühl, dass diese Reise mich auch nach ihrem Ende noch lange begleiten wird: mehr als 6000 Kilometer mit unendlich viel Zeit.
Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 1/2018 des National Geographic Travelers. Mehr über die einzelnen Etappen steht dort. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!