Wie es ist, die Erde von oben zu sehen

Ganze Kontinente auf einen Blick und alle 90 Minuten ein Sonnenaufgang: Der ehemalige Raumfahrer Thomas Reiter erzählt von seinen Aufenthalten im Weltall.

Von Kathrin Fromm
Veröffentlicht am 7. März 2018, 11:12 MEZ
Thomas Reiter
Der Astronaut Thomas Reiter 2006 bei einem Außenbordeinsatz an der Raumstation ISS – unter ihm die Erde.
Foto von NASA

„An das erste Mal, als ich die Erde von oben sah, kann ich mich noch gut erinnern. So einen Moment vergisst man nicht. Das war bei meiner ersten Mission, am 3. September 1995. Zusammen mit zwei russischen Kollegen startete ich in einer Sojus-Kapsel. Wir flogen in die Nacht hinein, was auf Grund der Lichtverhältnisse eine besondere Stimmung vermittelte. Wir sahen die hell erleuchteten Städte, konnten die Küstenlinien erkennen.

Die Erde als komplette Kugel habe ich bei meinen beiden Ausflügen ins All leider nicht gesehen. Die Raumstationen Mir und ISS, auf denen ich gelebt und gearbeitet habe, sind zwischen 350 und 400 Kilometer von der Erde entfernt. Die Erde als Kugel sieht man erst ab etwa 6ooo Kilometer. Trotzdem ist der Blick sehr beeindruckend. Man erkennt die Krümmung des Erdballs und überblickt ganze Kontinente, wie zum Beispiel Europa. Das ist überwältigend! Alle 90 Minuten umrundet man den Planeten, erlebt Sonnenaufgang und -untergang im Zeitraffer. Das ist ein unglaubliches Farbschauspiel in nur wenigen Sekunden.

Allerdings blieb im Arbeitsalltag nur wenig Zeit für den Ausblick, gerade unter der Woche. Einmal fragte mich ein Kollege auf der Erde, mit dem ich über Funk gesprochen hatte: ‚Wie sieht unser Planet denn heute aus?’ Da wurde mir klar, dass ich mir noch gar keine Zeit genommen hatte, mal rauszuschauen. Ich dachte: Das darf nicht sein! Wenigstens ein paar Minuten jeden Tag muss ich den Ausblick zu genießen. Ohne Fotos und Videos zu machen. Denn dann ist man immer nur auf der Suche nach einem schönen Motiv. Man konserviert zwar den Ausblick, ist aber nicht so aufnahmebereit.

Thomas Reiter ist zweimal ins All geflogen. Von allen europäischen Astronauten hat er die längste Zeit im Weltraum verbracht: insgesamt 350 Tage (bei zwei Missionen 1995/96 und 2006).
Foto von NASA

Das habe ich dann nach Feierabend gemacht. Am liebsten mit Musik, das verstärkt bei mir die Wahrnehmung. Ich habe zum Beispiel Pink Floyd und Fleetwood Mac gehört, manchmal auch Jazz oder klassische spanische Gitarrenmusik von Andrés Segovia. Ein Moment ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Wir sind nachts über Europa geflogen, ich sah die Umrisse des Kontinents und hörte „Albatros“ von Fleetwood Mac. Da sah ich unter mir eine Sternschnuppe in die Atmosphäre eindringen. Diesen Anblick verbinde ich für immer mit diesem Lied.

Ein besonderer Höhepunkt waren die Außenbordeinsätze. Die Fenster in der Station sind relativ klein. Im Raumanzug hat man ein wesentlich weiteres Gesichtsfeld. Wenn man mit dem Rücken zur Station schwebt, auf der einen Seite zur Erde schaut und auf der anderen in die Tiefe des Weltraums zur Milchstraße – das ist noch mal eine Steigerung. Da bekommt man einen Eindruck von der Unendlichkeit. Die Erde ist eben nur ein Staubkorn in den Tiefen des Alls.

Diese Eindrücke verändern auch die Perspektive auf unsere Welt. Das ist ein Effekt, dem sich niemand entziehen kann. Man erkennt, wie dünn und verletzlich die Atmosphäre ist, die in unterschiedlichen Blautönen schimmert. Von der Erdoberfläche aus gesehen erscheint diese 100 Kilometer dicke Luftschicht gewaltig. Aber das ist sie nicht. Nur diese hauchdünne, blaue Schicht ermöglicht überhaupt das Leben.

Heute arbeitet Thomas Reiter, 59, bei der europäischen Weltraumorganisation ESA.
Foto von Esa, J.Mai

Von oben sieht man auch den Einfluss des Menschen auf die Umwelt. Mit bloßem Auge sind zum Beispiel riesige Rodungsflächen in den Urwäldern zu erkennen. Das sind unglaubliche Ausmaße! Wie groß diese Schneisen sind, hat mich überrascht und nachdenklich gestimmt. Selbst von den Kriegen bleibt man nicht verschont. Bei meiner zweiten Mission 2006 zum Beispiel: Wir flogen über die Sahara, hatten eine gute Sicht auf die Wüste mit ihren vielfältigen Texturen und den tolle Farben, dann übers Mittelmeer und plötzlich, rund um Beirut, stiegen Rauchwolken auf. Das war der Konflikt zwischen dem Libanon und Israel. Von einer Sekunde auf die andere war ich wieder in der harten Wirklichkeit.

Von oben sieht man die Erde als Einheit. Man spürt, wie wertvoll dieser Ort in der unendlichen Weite des Weltalls ist. Hier unten auf der Oberfläche sieht man ja nur bis zum Horizont. Dort oben wird einem sehr schnell klar, dass dieser Planet unser einziges zu Hause ist.

Deshalb hoffe ich, dass in nicht allzu ferner Zukunft möglichst viele Menschen diesen Anblick erleben dürfen. In der Luftfahrt gab es vor 100 Jahren auch nur ein paar Abenteurer und Tüftler, heute kann jeder zu erschwinglichen Preisen überall hinfliegen. In der Raumfahrt ist das nicht ganz so einfach. Aber ich hoffe, dass der Flug ins All bald für möglichst viele ebenso erschwinglich wird. Die Schwerelosigkeit, der Blick von außen: Das sind Eindrücke, die nachwirken. Bilder, die einen für den Rest des Lebens begleiten.“

Wie andere Raumfahrer die Erde von oben sehen, beschreiben Sie in der Ausgabe 3/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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