Ein Fest der Farben
Das mexikanische Oaxaca ist berühmt für bunte Trachten, seit Generationen geben die Färber hier ihre Kunst an die Nachfahren weiter. Wie wird der kostbare Rohstoff gewonnen, etwa das edle Purpur?
Seit Stunden begleite ich Havacue Avendaño und seinen Sohn. Wir sind an der felsigen Küste der Isla San Agustín im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, und die beiden werden kein bisschen müde. Immer wieder klettert der 76-jährige Senior – drahtig, braun gebrannt, dichtes graues Haar – über die glitschigen Felsbrocken in die schäumende Brandung. Dort greift er nach einer Tixinda, der Purpurschnecke, die sich zwischen Seeigeln, Napfschnecken und anderen Weichtieren verbirgt. Sobald er sie aus ihrem Versteck zieht, füllt sich das Schneckenhaus mit einem zur Verteidigung bestimmten Drüsensekret. Vorsichtig gießt Avendaño die cremefarbene Flüssigkeit auf einen Baumwollstrang, der über seiner Schulter hängt. Später, wenn der Stoff in der Sonne trocknet, wird sich der gelbliche Farbton erst in Grün und dann in ein prachtvolles Violett verwandeln.
Avendaño ist einer der letzten traditionellen Färber des Bundesstaats Oaxaca. Seine Familie übt ihr Handwerk hier schon seit Jahrhunderten aus. Wo beherrscht noch jemand das Handwerk der Purpurgewinnung und -färbung? Und wie funktioniert das eigentlich? Diese Fragen führten mich nach Oaxaca im Süden Mexikos, eine Hochburg dieses traditionellen Handwerks. Hier leuchten natürlich gefärbte Stoffe noch in kaleidoskopischer Fülle. Und hier arbeiten, wenn auch immer seltener, noch Handwerker mit präkolumbischen Färbetechniken.
Das berühmteste Farbpigment aus Mexiko ist rot. Es wird aus der Cochenille-Schildlaus gewonnen. In Teotitlán del Valle, nicht weit von der Landeshauptstadt Oaxaca de Juárez, lebt Fidel Cruz Lazo mit seiner Familie. Ihr Name steht für schöne, handgewebte Teppiche. Cruz Lazos Sohn zeigt mir, wie man die Insekten von den Opuntien absammelt. Die Tiere leben als Parasiten auf diesen Kakteen, fressen das pflanzliche Gewebe und verwandeln es in Karminsäure. Die gesammelten Insekten werden getrocknet, gemahlen und anschließend mit Wasser und Ammoniak oder Soda gemischt. Das ergibt ein blutrotes Farbbad.
Als Nächstes pflücken wir die Blüten des Winterestragons, den sie hier Pericón nennen. Mit den zu Puder gemahlenen Blüten betäubten die Azteken angeblich Menschen vor ihrer Opferung. Heute gewinnt die Familie Cruz daraus ein leuchtendes Gelb. Zur Herstellung blauer Farbe zerstoßen wir einheimische Indigoblätter. Walnussschalen ergeben ein intensives Schokoladenbraun. Spule um Spule entsteht so in einem aufwendigen Vorgang die farbige, handgesponnene Wolle. Seit meinem Besuch in Oaxaca sehe ich die Kleidung meiner Mitmenschen mit anderen Augen – weil ich jetzt weiß, wie arbeitsintensiv es wäre, die Farbtöne auf natürliche Art zu produzieren.
Ich frage Cruz Lazo, ob er mit Purpurschnecken und deren Farbstoff Erfahrung hat – denn wegen dieser Farbe bin ich eigentlich hergekommen. „Das ist ein ganz besonderes Lila“, antwortet er. „Es gibt nur noch wenige Menschen, die es herstellen. Du musst ans Meer fahren. Dort gehen die Männer auf die Felsen und färben mitgebrachte Baumwolle mit Saft aus Schnecken.“
Purpurschnecken findet man nur am Meer, aber die Färber von Oaxaca wohnen in Pinotepa de Don Luis, einem kleinen Dorf etwa 20 Kilometer hinter der Küste. Vor dem zentralen Markt fällt mir eine ältere Frau in einem traditionellen Wickelrock auf, dessen lilafarbene Streifen einen weicheren, leicht unregelmäßigen Farbton haben. So viel weiß ich schon: Das Rot stammt von Cochenille- Läusen, das Blau aus Indigoblättern, und das Lila ist aus dem Sekret der Schnecke.
Ich spreche die Frau an. Sie heißt Margarita Avendaño, wie sich herausstellt, gehört sie zu den angesehensten Weberinnen dieser Region. Ihre Arbeiten wurden schon im Textilmuseum von Oaxaca de Juárez und im Botanischen Garten in New York ausgestellt. Ein paar Mal im Jahr bekommt sie schneckengefärbtes Garn von ihrem Bruder Habacuc. Dann stellt sie den Stoff nach der Art ihrer Vorfahren her. Ein ausschließlich aus naturgefärbtem Garn gewebter Wickelrock gilt als Schatz und wertvolles Familienerbstück. Avendaño trägt ihren voller Stolz.
Ich mache mich auf, den Ort zu erkunden. Bald komme ich am Haus einer Familie vorbei, die Baumwolle noch mithilfe der Purpurschnecken färbt. Der Vater ist erst vor einer Woche vom Meer zurückgekommen und zeigt mir die lilafarbenen Flecken an seinen Händen. Seine Tochter hat mit dem Purpurgarn bereits ein weißes Kleid aufwendig bestickt. Sie lässt mich daran schnuppern. Das Garn riecht immer noch nach Meer.
Vor meiner Abreise besuche ich Margarita Avendaño in ihrem Haus. Sie hat Dutzende synthetisch gefärbte Röcke in ihrer Verkaufskollektion, aber nur eine der raren Webarbeiten aus dem Garn, das mit den Schnecken gefärbt wurde. Sie beobachtet mich, wie ich über die weichen, violetten Fäden streiche. „Mein Bruder hat mehrere Hundert Schnecken gesammelt, um das Purpurgarn herzustellen“, sagt sie. Knapp 500 Euro soll der Rock kosten.
Wer heute legal Purpurschnecken sammeln will, braucht dafür eine Lizenz. Jahrhundertelang waren die Männer von Pinotepa de Don Luis zum abgelegenen Küstendorf Bahía San Agustín gezogen, acht Tage zu Fuß über Stock und Stein. Inzwischen reisen sie mit dem Auto an, dann tuckern sie mit kleinen Booten in die Felsbuchten, in denen die Tiere vorkommen und sich an Seepocken und Muscheln sattfressen. Mehrere Wochen lang klettern die Männer bei Niedrigwasser über die Felsen, suchen Schnecken und färben Baumwolle für Margarita Avendaño und die anderen Weberinnen von Oaxaca.
Knapp 20 Schneckenjäger arbeiten noch auf diese Weise. Einer von ihnen ist Avendaños Bruder Habacuc, der das Handwerk vor vielen Jahrzehnten als Jugendlicher gelernt hat. Er willigt ein, mich einen Tag lang auf die Jagd nach Tixindas mitzunehmen.
Nach dem Mittagessen fahren wir hinaus zur unbewohnten Isla San Agustín. Eine halbe Stunde später wirft sich Avendaño einen weißen Baumwollstrang über die Schulter. Barfuß klettert er über einen mit Seepocken übersäten Felsen und hebelt mit einem Stock eine golfballgroße Schnecke aus ihrem Versteck, leert sie und setzt das unverletzte Tier gleich darauf wieder ins Wasser. Stundenlang wiederholen der alte Mann und sein Sohn den Vorgang.
Nach vielen Stunden kehren wir zum Strand zurück und sammeln auf dem Weg dorthin noch ein paar Seeigel und Napfschnecken für unser Abendessen. Mein Rücken schmerzt, ich habe Sonnenbrand, die Füße sind mit blutigen Kratzern übersät – und ich bin glücklich.
Avendaño schlendert zu einem umgestürzten Baum und hängt die gefärbten Stränge daran. Gerade verfärben sich die letzten Fasern von Grün zu Violett. Der Abendhimmel dahinter tut es ihnen nach.
Aus dem Englischen von Sabine Schmidt
Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie die ganze Reportage in Heft 2/2018 des National Geographic Traveler. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!