Draußen im Meer
Am wildesten ist Schottland auf seinen Inseln. Hin kommt man oft nur, wenn gerade mal kein Sturm aufzieht. Das gilt besonders für Fair Isle.
Die Schafe waren nicht gerade kooperativ. Wenn ich stehenblieb, blieben sie auch stehen. Wenn ich weiterging, trotteten sie dicht zusammengedrängt vor mir her, streckten mir ihre schmutzigen Hinterteile entgegen und drehten sich ab und zu um, als fänden sie eine Erklärung angebracht. Was wird das hier eigentlich? Kleiner Spaziergang? Ganz allein unterwegs?
„Ich mache einen Wanderurlaub“, erzählte ich ihnen, während ich auf den Klippen mit Bedacht einen Fuß vor den anderen setzte, das Meer tief unter mir im Blick. Mal leuchtete es klar, dann wieder war es von Seetang verdunkelt und erinnerte mich an das gescheckte Fell eines Shetlandponys. Gelegentlich klatschte eine stattliche Welle gegen die Klippen. „Außerdem“, fügte ich hinzu, „wollte ich auf eine kleine, einsame Insel wie aus dem Märchenbuch reisen“ – ich zeigte auf die grünen, menschenleeren Hügel rund um mich herum. „Ich wollte endlich zur Ruhe kommen.“ Die Schafe guckten nur.
Schottland ist für mich das Land, in dem das Glück wohnt. Ich war schon immer fasziniert von seiner Vielfalt: von den sanften Anhöhen der Scottish Borders im Süden, vom majestätischen Schloss und der lebhaften Theaterszene in Edinburgh, von der erhabenen Landschaft der Highlands. Jetzt war ich allerdings im minimalistischen Schottland: keine Burgen und Festivals, fast keine Bäume. Die Insel Fair Isle ist ein von der Brandung umtostes Stück Grün von der Größe der Insel Wangerooge etwa 130 Kilometer nördlich des schottischen Festlands. Einwohner: knapp über 50. Das klang nach genau der Art von Entspannung, die ich gerade brauchte. Ich buchte für Ende Juli.
Kaum war ich aus der siebensitzigen Propellermaschine gestiegen und hatte die unbefestigte Start- und Landebahn in der Mitte der Insel betreten, geriet ich in einen angenehm meditativen Zustand, der bis zu meiner Abreise fünf Tage später anhielt. Ein Auto brauchte ich nicht: Man kann fast überall zu Fuß hingehen; und wer querfeldein wandert, überwindet Mauern und Zäune mithilfe kleiner Holzübertritte. Während meines ganzen Aufenthalts schien die Sonne, und es war mehr als 20 Stunden am Tag hell. Gelegentlicher Dunst brachte die Landschaft zum Leuchten. Grasbewachsene Hügel endeten an schroffen Klippen, die steil zum rauschenden Meer abfielen.
Und auf den Klippen leben Vögel. So viele Vögel! Ein der Küste vorgelagerter Felsen war vor nistenden Tölpeln fast vollkommen weiß. Auf kleinen, moosbedeckten Flecken rasteten Möwen. Papageientaucher spazierten zu ihren Felshöhlen wie kleine befrackte Kellner. Dann und wann hoben sie ab und schossen ins Wasser, um nach Sandaalen zu tauchen. Kurz darauf kamen sie wieder heraufgeschnellt und flogen oberhalb ihrer Höhlen mit ulkig unsortierten orangefarbenen Füßen und der silbrigen Beute im Schnabel hin und her, bevor sie eine saubere Landung hinlegten. Sie waren die unangefochtenen Stars für jeden, der vorbeikam – was an diesem Tag genau zwei Menschen waren: ich und die Lehrassistentin Charlotte York aus York. „Ich bin nur wegen der Papageientaucher hier“, rief sie mir zu, während sie mit ihrer kleinen Kamera fröhlich drauflosklickte.
Gedankenverloren bewunderte ich die runden, schön geschwungenen Körper der Papageientaucher, ihre Harlekinaugen und Great-Gatsby-Frisuren: seidig glänzende schwarze Kopffedern, die am schieren weißen Rücken zu einer Spitze zusammenliefen. Ein Skua flog über uns hinweg. Die auch Bonxies genannten, robust gebauten Raubmöwen haben eine Flügelspanne von anderthalb Metern und einen gesunden Appetit auf die Eier, Küken und Nahrung der Papageientaucher. Mit ihrer eindrucksvollen Größe erschrecken sie die kleineren Vögel, die darauf in die eben erbeuteten Sandaale fallen lassen und sie ihnen überlassen. Ein zweiter vorbeifliegender Skua warf seinen Düsenjägerschatten auf die Klippe. Die ganze Papageientaucherschar scheute im Gleichtakt zurück.
Am nächsten Tag wanderte ich gen Süden, wo es weniger Bonxies und mehr Menschen gibt. Die Sonne schien, und die Einheimischen mähten das Gras auf ihren Feldern und harkten es zu Reihen zusammen. Einige winkten. Hier und da lehnten handgeschriebene Reklameschilder für Strickwaren an den Gartenzäunen. In Gewächshäusern reiften riesige Tomaten, sogar Weintrauben.
Ich ging in den einzigen Lebensmittelladen, um Schokolade zu kaufen, und lernte Fiona Mitchell kennen, die hinter der Theke bediente. Sie ist auf der Insel aufgewachsen, ging fort und kam mit 22 Jahren zurück, um gemeinsam mit ihrem Mann diesen Laden und das Postamt zu führen. „Mit einer jungen Familie ist man Teil der Gemeinschaft“, sagte sie. „Man hilft sich gegenseitig, und die Kinder sind gut aufgehoben, denn jeder interessiert sich für sie wie für die eigenen Kinder.“
Natürlich hat es auch Nachteile, hier zu leben: Man kann nicht wegfahren, wann immer man möchte. Manchmal sitzt man wochenlang fest. „Wenn das schlechte Wetter anhält, müssen wir den Käse und alles andere rationieren“, sagte Fiona. „Wir haben hier schon bis zu sechs Wochen ausgeharrt, bis mal wieder ein Schiff kam.“
Viele der freundlichen Insulaner freuen sich auf einen Plausch mit den Besuchern. Vor dem Fair Isle Museum kam ich mit dem 75-jährigen Jimmy Stout ins Gespräch, der gerade den Rasen mähte. Er war früher Fährschiffkapitän und erzählte mir von seinem Großvater, der als Erster am Ort gewesen war, als 1941 ein deutsches Kriegsflugzeug auf einem Feld unweit seines Hauses abstürzte. Die britische Armee nahm die Überlebenden gefangen, aber es waren drei Versuche nötig, um sie von der Insel fortzubringen. Ein Schnellboot und ein Trawler liefen auf Grund, bevor es einem Rettungsboot gelang, die Gefangenen zum Festland zu transportieren.
In allen Gesprächen ging es immer wieder darum, wie schwierig es ist, die Insel zu erreichen. Sie liegt näher am norwegischen Bergen als an der Hauptstadt Edinburgh.
Aber es lohnt sich, den weiten Weg anzutreten. Fair Isle schenkte mir Zeit für lange Wanderungen und Mahlzeiten in einer immer wieder neu zusammengesetzten Gesellschaft von Menschen, mit denen ich mich sofort verstand: eine Geschäftsfrau aus Hongkong, Engländer, die Vögel beobachteten, ein älteres Ehepaar von den Orkneyinseln und eine Gruppe Männer aus Südschottland, die hier ein Elektrizitätswerk inspizierten. Sie tranken jeder vier Bier zum Abendessen und sprachen mit einem so starken Akzent, dass ich kein einziges Wort verstand. Nicht eines.
An meinem letzten Abend überließ ich die Engländer ihren Gesprächen über Vögel und die Schotten ihren Witzen und ging den kleinen Hügel nach North Haven hinunter. Der Himmel war vollkommen klar. Wie schade! Ich hatte gehofft, er würde sich zuziehen und ein dramatischer Sturm würde erst einmal kein Flugzeug mehr starten lassen. Ich wäre einfach noch ein paar Tage geblieben.
Lesen Sie den ganzen Artikel in Heft 3/2019 des National Geographic-Travelers!