Europas geheime Märchendörfer

Prag, Venedig und Madrid fehlen in keinem Europa-Reiseführer. Doch in jedem Land gibt es versteckte, verschlafene Örtchen, in denen die Zeit scheinbar stehen geblieben ist.

Von Raphael Kadushin
Veröffentlicht am 22. Jan. 2021, 11:30 MEZ
ERICE

ERICE, ITALIEN | Am besten nimmt man die Seilbahn, um zu diesem traumhaften Berggipfel voller mittelalterlicher Sehenswürdigkeiten zu gelangen, die sich oft in der Wolkendecke verlieren – lokal auch als „Kuss der Venus“ bekannt. Ursprünglich war das Dorf ein heidnischer Ort der Anbetung. Heutzutage bleibt es eher den sizilianischen Handwerkstraditionen treu und bietet Waren wie handbemalten Keramiken und handgewebten Teppiche an, die direkt in den zahlreichen Werkstätten verkauft werden.

Foto von Visions from Earth, Alamy Stock Photo

Als ich vier Jahre alt war, lebten wir in einem Vorort im Mittleren Westen mit flachen Ranchhäusern und geraden Linien. Den einzigen Hauch von Magie gab es auf dem örtlichen Märchen-Minigolfplatz, wo ein verirrter Ball ein Auge von der Kinderreim-Figur Mutter Hubbard herausgeschossen hatte.

Aber als ich viereinhalb war, zogen wir in die Niederlande, in das kleine friesische Dorf Hindeloopen – und fielen in eine andere Welt. Plötzlich hatten die Häuser sanft geschwungene Giebel, wie aus einer alten Fabel. Meerjungfrauen schlugen mit ihren Schwänzen in den Kanälen, erzählte mir das Nachbarsmädchen Janneke, und hungrige Trolle versteckten sich auf den Weiden und warteten darauf, von meinem leckeren amerikanischen Fleisch zu kosten. Die Angst darüber war schön und aufregend, und so rannte ich zur Schule, stiefelte durch die Felder des Tieflandes, vorbei an den flammenden Tulpen und grasenden Lämmern.

Dies war der Beginn meiner anhaltenden Liebe zu Dörfern, die wiederum meine Liebe zum Reisen befeuerte. Um den Zauber von Hindeloopen wiederzufinden, suchte ich weiter. Ich tauschte mich mit anderen unerschrockenen Reisenden über ihre Lieblingsdörfer abseits der Touristenpfade aus, und jeder von uns pflegte seine eigene Liste mit pastoralen Zwischenstopps. Als ich als Erwachsener quer durch Europa reiste, wurde meine Liste immer länger und begann sich wie polyglotte Poesie zu lesen: Da gab es Fornalutx und Firle, Apeiranthos und Dozza.

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Aber das erste Dorf, das nach Hindeloopen auf meiner Liste landete, war eigentlich kein Geheimtipp: das bayerische Örtchen Rothenburg ob der Tauber. Ich war nicht der Erste, dem auffiel, dass es wie ein mittelalterliches Bühnenbild aussah. So ziemlich jeder hatte das bemerkt, von den Malern des 19. Jahrhunderts, die das Dorf zum Inbegriff der deutschen Romantik gekürt hatten, bis zu den Instagramern des 21. Jahrhunderts, die vor den alten Brunnen posieren. Sogar Walt Disney nahm Rothenburg als Vorlage für sein Dorf in „Pinocchio“.

Warum gerade Rothenburg? Ironischerweise war der Grund bittere Armut. Die Stadt war ein blühendes Zentrum der Renaissance, bevor der Dreißigjährige Krieg und die Beulenpest den Ort in der Bedeutungslosigkeit versinken ließen. Im Grunde ist das eine ganz typische Dorfgeschichte. Während reichere Städte in die Zukunft vorstießen und sich rastlos weiterentwickelten, blieben die verarmten Dörfler in der Vergangenheit stecken, weil sie es sich sprichwörtlich nicht leisten konnten, neue Entwicklungen und Wachstum zu fördern. Und in diesem Sinne hält das Dorf auch eine tiefgründigere Erkenntnis bereit.

Das sah ich, als ich in der Abenddämmerung durch Rothenburg schlenderte, nachdem die Touristenhorden abgezogen waren. Rothenburg war nicht nur ein Rückfall in die Vergangenheit. Es war auch das Spiegelbild einer viel größeren, beseelten bayerischen Kultur, die vielleicht überall sonst verschwunden ist. Hier aber hat sie sich hartnäckig gehalten und existiert nach ihren eigenen Regeln.

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BELIEBT

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    Ich stolperte zufällig über meinen nächsten Listeneintrag, als ich in einem verbeulten Volkswagen Käfer durch die Cotswolds fuhr. Was das englische Dörfchen Swinbrook für mich zu einem sofortigen Hit machte, war das Gefühl, dass es so schwer zu finden und so leicht zu übersehen war – wie jede echte Entdeckung.

    Swinbrook war das prototypische englische Dorf, reduziert auf das Wesentliche: Es gab einen Pub, eine Kirche, eine Reihe von Steinhäuschen und nicht viel mehr. Aber das war auch nicht nötig. Das Swan Inn aus dem Jahr 1880, das später als Kulisse in „Downton Abbey“ diente, war ein Architektur-Klassiker mit Balkendecke.

    Danach wurde ich ein leidenschaftlicher Dorfjäger. Da die eisige Eleganz Skandinaviens mich schon immer angesprochen hatte, reiste ich an die Spitze der Welt. Dort entdeckte ich Sandhamn in Schweden. Es ist die einzige wirkliche Siedlung, die vor der Ostseeinsel Sandön liegt, weit draußen im Meer am Rande des Stockholmer Schärengartens.

    Wieder und wieder entdeckte ich diese abgelegene Art von Schönheit – ein Beweis dafür, dass die Isolation Dörfer in Kulturreservate verwandeln kann.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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