Ein Land, das nicht loslässt

Acht Leser wanderten beim ersten Adventure Trip von NATIONAL GEOGRAPHIC und Globetrotter durch Island. Chefredakteur Florian Gless war dabei und wurde demütig.

Von Florian Gless

Zusammenfassung: Acht Menschen aus ganz Deutschland wurden ausgelost, um am ersten Adventure Trip von National Geographic und Globetrotter teilzunehmen und durch Island zu wandern - auch Chefredakteur Florian Gless war dabei. Mit 15 Kilo Gepäck auf dem Rücken ging es über schwarze Sandwüsten und eisige Schmelzwasserbäche durch die unberührte Natur des Vulkaneilands . Dies ist sein Reisebericht.

Ein rotes englisches Wein­gummi kann eine Er­ füllung sein. Nach 18 Ki­lometern Fußmarsch, quer durch die isländi­sche Urlandschaft, ent­lang von Schluchten, Hunderte Meter tief, und reißenden Schmelz­wasserbächen macht so ein kleines rotes Wein­gummi das Glück vollkommen.

Wir sind den ganzen Tag gewandert, Gepäck auf dem Rücken, 15 Kilo schwer, über schwarze Sandwüsten und durch eisige Schmelzwasser­bäche. Wir: acht Menschen aus ganz Deutsch­ land, die sich beworben haben, um an diesem ersten Adventure Trip von NATIONAL GEOGRA­PHIC und Globetrotter teilzunehmen, und aus­gelost worden sind. Dazu Maike und Sandy von Globetrotter sowie Philipp, unser Fotograf, und ich. Zwölf Gefährten für sechs Tage, über Mittsommer unterwegs in einer der unwirt­lichsten und atemberaubendsten Landschaften Europas.

Armann, unser isländischer Guide, hat uns hierhergeführt, zur Emstrur­-Hütte, von der aus wir einen grandiosen Blick auf den Eyjafjal­lajökull haben, den Vulkan, dessen Ausbruch vor fünf Jahren den internationalen Flug­ verkehr lahmgelegt hat. Unterwegs hat Armann uns erzählt, dass die Amerikaner, die bis 2006 auf Island stationiert waren, sich einen einfa­chen Trick ausgedacht haben, um die unaus­sprechlichen isländischen Namen für Gletscher, Berge und Flüsse über die Lippen zu bringen: aus dem Eyjafjallajökull, zum Beispiel, machten sie „E­fifteen“ – ein E plus 15 Buchstaben. Und nun sind wir hier in Emstrur, in der Nähe von M­eighteen, dem Markarfljótsgljúfur, mit 200 Metern einer der tiefsten Canyons Islands, leicht durchnässt vom Regen und am Ende un­serer Kräfte.

Für viele von uns ist es eine völlig neue Erfah­rung, innerhalb von nur zwei Tagen aus der deutschen Zivilisation mit ihrer Rundum­sorg­los­-Ausstattung in die isländische Wildnis ge­ worfen zu werden. Zu spüren, was es heißt, plötzlich auf das reduziert zu sein, was in den Rucksack passt. Zelt, Schlafsack, Isomatte, eine trockene Hose, ein warmes Fleece und eine Zahnbürste. Wasser gibt es in den Bächen, wir müssen nur unsere Flaschen hineintauchen – auf Island ist es überall trinkbar. Schnell mer­ken wir, dass es nicht viel mehr braucht, um zu (über­)leben.

So weit draußen in der Natur, wo kein Handy­netz mehr den Kontakt zum Rest der Welt er­ möglicht, wo es nur noch unsere Gruppe gibt und jeden Einzelnen selbst, wird vieles unwich­tig. Die Zeit entgleitet, die rund um die Uhr leuchtende Sonne zieht flach über den Hori­zont, der Orientierungssinn verliert die Him­melsrichtungen. Wir gehen und gehen, Armann immer voraus, nur er weiß, wo unser Ziel liegt, aber auch er muss immer wieder auf seinem GPS die Route überprüfen. Nach einigen Stun­den haben wir unser Hiker’s High erreicht – so jedenfalls muss es sich anfühlen, wenn die Ma­rathonläufer von ihrem Runner’s High schwär­men: der Kopf leer, die Sinne auf äußerster Empfindsamkeit, um all die Bilder zu tanken, die Eindrücke, die diese gigantische Landschaft auf der Seele hinterlässt.

Der Mensch wird winzig in Island. Wir wandern im Gebiet Þórsmörk. Zwischen den Abhängen der benach­barten Berge hängen Gletscherzungen in die Täler wie gefrorene Tsunamiwellen, am zweiten Abend droht ein schmaler Gebirgsbach wegen seiner Tiefe und Strömung zum unüberwind­baren Hindernis zu werden, bis Armann ein schmales Brett findet, das den Übergang ermög­licht. Die Welt ist nahezu baumlos, die Isländer haben sie vor tausend Jahren viel zu schnell abgeholzt, um Boote und Hütten zu bauen. Sie konnten nicht ahnen, wie langsam hier alles wächst in einer Vegetationsphase, die nur drei Monate währt.

Foto von Philipp Spalek

Die Insel ist geologisch ein Baby. Vor nur rund 15 Millionen Jahren wuchs sie durch vulkanische Aktivität aus dem Nordatlantik, der Westen liegt auf der Nordamerikanischen, der Osten auf der Eurasischen Platte, die jährlich rund drei Zentimeter auseinanderdriften – „so viel, wie ein Fingernagel im Jahr wächst“, wie die Isländer sagen. Entlang dieser diagonalen Trennlinie liegen mehrere aktive Vulkane, zu­ letzt brach im August 2014 der zentral gelegene Bárðarbunga aus, einer der berüchtigten Vul­kane, die unter einem Gletscher liegen und die mächtigen Eismassen zum Schmelzen brin­gen können. Die Einheimischen fürchten ihre Flutwellen.

Die Vulkane, die Gletscher, das Wasser und der Wind haben Islands Oberfläche geformt, und so nehmen wir es schon fast mit Gelassen­ heit hin, als wir am Fimmvörðuháls inmitten eisiger Schneefelder auf warmem Gestein pau­ sieren. Fußbodenheizung, in 1.100 Meter Höhe. Kurz vor dem Ausbruch des Eyjafjallajökull 2010 ist genau hier die Erde zuerst aufgerissen und hat die Lava herausgerotzt, die noch immer abkühlt, so dass bis heute kein Schnee auf den weiten Flächen liegenbleibt.

Am frühen Abend des zweiten Tages melden sich meine Knie. Erst das linke, dann, zwei Stunden später, auch das rechte. Gerade wenn es bergab geht. Anfangs ein unangenehmes Zie­hen, das sich zu einem fiesen Stechen steigert. Anette gibt mir eine Schmerztablette, Sarah ihre Wanderstöcke, über die ich mich zu Hause beim Anblick der Nordic Walker immer amü­siert habe. Bis jetzt. Denn nun kann ich mein Gewicht besser verteilen, beim Abstieg eher die Stöcke belasten als die Knie. Eine Rettung.

So funktioniert unsere Gruppe aus zwölf Menschen, die sich bis gestern nicht kannten: Als jemand die Last seines Rucksacks nicht mehr tragen kann, übernehmen andere ihn und hängen ihn sich abwechselnd vor den Bauch. Am folgenden Tag verteilen wir die schwersten Lasten auf die Gruppe. Darüber wird nicht geredet, es wird gemacht, weil es selbstverständlich ist hier draußen, wo der Mensch nicht unbedingt hingehört.

Hier regiert die unberührte Natur, und so fordert sie Respekt und die unbedingte Einhaltung der Regeln, die im Alltag nicht mehr selbstverständlich sind: Bleibt zusammen! Kümmert euch gegenseitig! Achtet aufeinander! Zur Belohnung gibt es Gänsehautmomente und Bilder im Panoramaformat, die bis in die Träume ragen. Noch Tage nach der Rückkehr werde ich sie im Kopf haben. Wie unwirklich das alles anmutet, wird uns erst bewusst, als wir am fünften Tag in die belebte Welt zurückkehren. Die trennt sich in Island zwischen dem Groß-raum Reykjavík und dem Rest. Von den rund 330 000 Isländern leben etwa 250 000 im Gebiet der Hauptstadt auf dem südwestlichen Zipfel, der im 9. Jahrhundert zuerst von Norwegern besiedelt worden ist.

Der Name Reykjavík bedeutet „rauchende Bucht“ und bezieht sich auf die zahlreichen rauchenden und dampfenden Erdöffnungen, die es allerdings überall auf der Insel gibt und über denen heute kleine Kraftwerke, Schwimmbäder oder Gewächshäuser stehen (in denen durchaus auch Ananas und Bananen angebaut werden). Energie wird im modernen Island ein immer wichtigerer Faktor, für circa fünf Milliarden Euro will man demnächst ein tausend Kilometer langes Kabel nach Großbritannien verlegen, um das reichliche Überangebot an thermischer Energie endlich auch exportieren zu können.

Aber auch der Tourismus boomt. Im Hochsommer, sagt Armann, seien Hunderte unterwegs, wo wir jetzt einsam durch die Natur wandern, der internationale Flughafen in Keflavík verzeichnet ein jährliches Wachstum von über 20 Prozent. Es gibt ein weites Netz von markierten Routen, Hütten bieten Schlafplätze und sanitäre Anlagen, und landesweit stationierte freiwillige Rettungsteams sollen für eine schnelle und effiziente Versorgung von Verletzten sorgen. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Wanderer tödlich verunglücken. Keine halbe Stunde Fußweg entfernt von Þórsmörk ist vier Wochen zuvor ein Mann im Schnee erfroren. Er war allein unterwegs (großer Fehler Nummer eins) und hatte kein GPS-Gerät dabei (großer Fehler Nummer zwei).

Auf diesem unwirtlichen Vulkaneiland ist es den Isländern gelungen, im Laufe der vergangenen tausend Jahre eine funktionierende Volkswirtschaft zu errichten – und das mit nur 330 000 Menschen, der Einwohnerzahl einer deutschen Mittelstadt wie Bielefeld. Es gibt eine eigene Fluglinie mit 21 Jets, eine Fußball-Profi-Liga mit zwölf Vereinen, ein modernes Bildungssystem und nach der Bankenkrise von 2009 jetzt wieder eine stetig sinkende Arbeitslosigkeit. Es gibt sogar eine blühende Schokoladenindustrie, die mehr Ostereier produziert, als Island Einwohner hat.

Aber es hat eben auch seinen Grund, dass es nicht mehr Isländer gibt. Die Lebensbedingungen sind hart, 2014 wanderten 5500 Inselbewohner aus. Außerhalb der Städte lädt das Land nicht dazu ein, sesshaft zu werden, die Natur ist einfach zu karg und zu wild. Sie fordert alles ab von uns Menschen, sie bringt uns an unsere Grenzen, sie lässt uns ehrfürchtig und genügsam werden. In Emstrur ist unsere Gruppe völlig erschöpft, aber beseelt. Das rote Weingummi schmeckt überirdisch. Wir müssen wiederkommen.

(NG, Heft 8 / 2015, Seite(n) 114 bis 121)

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