Impft diese Kinder!

In Entwicklungsländern leiden Hunderttausende unter Krankheiten, die es nicht mehr geben müsste – wenn wir ihnen endlich die Impfungen gäben, die bei uns selbstverständlich sind.

Von Cynthia Gorney
bilder von William Daniels
Veröffentlicht am 22. Juni 2018, 14:39 MESZ
impfen Pakistan
Pakistan: Weil der Vater dem Polioimpfstoff nicht vertraute, ist das eine Bein seiner Tochter Rafia verkümmert, das andere durch einen Unfall gebrochen. Jetzt macht sich der Ladeninhaber Ghulam Ishaq aus Karatschi schwere Vorwürfe.
Foto von William Daniels

Saha ist Mikrobiologe. Er genießt internationales Ansehen durch seine Arbeiten über ein Bakterium namens Pneumococcus. Sein Labor liegt im Dhaka Shishu Hospital, dem größten Kinderkrankenhaus Bangladeschs. Dort beschäftigen sich Männer und Frauen in weißen Kitteln Tag für Tag eingehend mit Bakterien.

Pneumokokken sind heute allgegenwärtig. Sie besiedeln die Atemwege gesunder Menschen, ohne groß aufzufallen. Ist das Immunsystem jedoch geschwächt, können die Pneumokokken lebensbedrohliche Infektionen auslösen. Am anfälligsten sind kleine Kinder, die keinen Zugang zu Antibiotika und guter medizinischer Versorgung haben.

Als Anfang 2000 in den USA und Kanada der erste wirksame Pneumokokken­-Impfstoff für Kinder auf den Markt kam, starben jährlich weltweit noch 800 000 Säuglinge und Kleinkinder unter fünf Jahren an Lungen- und Hirnhautentzündungen oder Blutvergiftungen, die durch diese Bakterien verursacht wurden. Die große Mehrzahl dieser Todesfälle ereignete sich in verarmten Ländern wie Bangladesch.

Erst 2015, anderthalb Jahrzehnte später, gelangte der „konjugierte Pneumokokken­-Impfstoff“, wie das Präparat für Kinder genannt wird, in das südasiatische Land. Aufmerksam verfolgt Sahas Team seither den Fortschritt. Ist der Impfstoff so wirksam, wie die Experten hoffen, verspricht er eine viel geringere Sterblichkeit.

„Weniger ... Leid“, sagen Saha und seine Kollegen immer wieder. Und sie schicken mich zur elfjährigen Sanjida Sahajahan, dem mittleren Kind eines Rikscha-Mechanikers und seiner Frau. „Fahren Sie jetzt hin“, sagt Saha. „Wenn Sie zurückkommen, reden wir über alles.“

Bangladesch: Die heute elfjährige Sanjida Sahajahan war ein ganz gesundes Kleinkind, bis Pneumokokken-Bakterien bei ihr eine Hirnhautentzündung auslösten. Die entsprechende Impfung hätte die schrecklichen Folgen verhindern können.
Foto von William Daniels

In dem Haus, in dem Sanjida Sahajahan wohnt, teilen sich neun Familien zwei Toiletten und einen Wasserhahn. Das Mädchen sitzt auf einem Plastikstuhl neben dem Bett der Familie. Es hat keine Kontrolle über die Bewegungen seines Kopfes, über seine Grimassen und die Geräusche, die es von sich gibt – meist sind es wimmernde Schreie. Auf Bengali erzählt die Mutter ihre Geschichte: Wie ihre aufgeweckte dreijährige Tochter plötzlich ein unerklärliches Fieber bekam. Ein paar Tage später folgten die ersten Krampfanfälle. Als Ärzte Sanjida untersuchten, wurde sie bewusstlos. Ihre letzten Worte an ihre Mutter: „Nimm mich in den Arm. Ich fühle mich so schlecht.“

Wie sich herausstellte, litt sie an einer Pneumokokken-Hirnhautentzündung. Einer Entzündung jener Häute, die Gehirn und Rückenmark einhüllen, und die manchmal dauerhafte Schäden hinterlässt. Während Nazma erzählt, zieht Mohammad, Sanjidas Vater, aus einer Schublade im Schrank eine verschlissene gelbe Karte: Sanjidas staatlicher Gesundheitsausweis. Darauf steht auch ihr Geburtsdatum: September 2005. Nach sechs Wochen erhielt Sanjida ihre ersten Impfungen, termingerecht und kostenlos – genau so, wie es das staatliche Immunisierungsprogramm vorsah. Jede Impfdosis ist auf der Karte vermerkt: gegen Keuchhusten, Masern, Diphtherie, Tuberkulose, Tetanus, Hepatitits B und Polio. Nur nicht gegen Pneumokokken.

Auf die Frage, woher Nazma die Bedeutung von Impfungen kenne, blickt sie mich verblüfft an und sagt: „Das weiß in Bangladesch doch jeder.“

Bekannte Sänger und Sportler rühmen die lebensrettenden Impfungen in staatlichen TV-Werbespots. Von Tausenden Minaretten erschallen die Aufforderungen, sich impfen zu lassen, genauso selbstverständlich wie die Gebetsrufe.

Allerdings ist es nicht so einfach, die Impfstoffe in Bangladesch zu den Menschen zu bringen. Durch das Land ziehen sich hochwassergefährdete Flüsse und kaum passierbare Straßen, und der Impfstoff behält seine Wirksamkeit nur, wenn er in der richtigen Temperatur aufbewahrt wird. Aber in Bangladesch hat man viel dafür getan, die Kühlketten zu gewährleisten. Lokale Gesundheitsstationen wurden mit Solarzellen ausgestattet. Auf Fahrrädern und Flussbooten werden die Impfstoffe noch bis in die abgelegensten Krankenhäuser gebracht. Aufgrund seiner Reichweite genießt das Impfprogramm in Bangladesch einen sehr guten Ruf.

Pakistan: In Karatschi gehen Impfhelfer unter Polizeischutz zu Hausbesuchen. In den letzten Jahren kamen zahlreiche von ihnen durch gewaltsamen Widerstand gegen Impfungen ums Leben.
Foto von William Daniels

Auf dem Weg zum Krankenhaus begreife ich, was mir Samir Saha mit dieser Begegnung zeigen wollte. 2005, als Sanjida ein Säugling war, wurden Kinder in den USA bereits routinemäßig mit dem neuen Pneumokokken-Impfstoff immunisiert. Probleme gab es in Regionen wie Bangladesch: Dort wurde der Impfstoff zwar viel dringender gebraucht, aber die Länder konnten den Preis, den der Hersteller verlangte, nicht bezahlen.

Bis vor Kurzem wurde der Weltmarkt von wenigen US-amerikanischen und europäischen Pharmakonzernen beherrscht. Fordern gemeinnützige Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, die Preise zu senken, bekommen sie von Industrievertretern immer die gleiche Antwort: Die Entwicklung von Impfstoffen ist besonders teuer.

Der erste Pneumokokken-Impfstoff für Kinder war einer der kostspieligsten aller Zeiten. Der amerikanische Pharmakonzern Wyeth brachte ihn 2000 unter dem Namen „Prevenar“ auf den Markt. Das Präparat wirkte gegen sieben Serotypen, die für die meisten Krankheitsfälle verantwortlich waren – jedenfalls in den USA. Unter den gefährlichen Pneumokokken, gegen die das Produkt nicht wirkte, war der Serotyp 1. Dieser führte in den USA nur selten zu Krankheitsfällen, ist aber in Afrika und Südasien eine Hauptursache für die Pneumokokkenerkrankungen und Todesfälle.

Demokratische Republik Kongo: Mitglieder von Ärzte ohne Grenzen überqueren einen Fluss bei Monga, wo eine Epidemie wütet. Den Impfstoff haben sie in Kühlboxen auf Motorrädern festgeschnallt.
Foto von William Daniels

„In den reichen Ländern ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind an einer Pneumokokkenerkrankung stirbt, hundertmal geringer “, sagt Orin Levine, der bei der Bill & Melinda Gates Foundation für die Verteilung und Anwendung von Impfstoffen zuständig ist. Eine sichere Rendite fahren die Impfstoffhersteller nicht da ein, wo der Bedarf an Impfstoffen am größten ist.

Dieser Frust, den Impfstoffexperten auf der ganzen Welt teilen, führte zur Gründung der Global Alliance for Vaccines and Immunisation, kurz: Gavi. Das öffentlich-private Gemeinschaftsprojekt, das inzwischen Milliarden verwaltet, wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen, gerade als in den USA die ersten Pneumokokken-Impfstoffe für Kinder auf den Markt kamen.

Allein die Gates Foundation stellte 750 Milionen Dollar zur Verfügung. Gavi nutzt die finanziellen Mittel aus reichen Ländern – private Spenden ebenso wie staatliche Hilfen –, um Impfungen in ärmeren Ländern zu finanzieren. Außerdem handelt die Organisation bei den Impfstoffherstellern Rabatte für große Abnahmemengen aus.

“In den reichen Ländern ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind durch Pneumokokken stirbt, hundertmal geringer.”

von Orin Levine, Gates Foundation

Dabei wurde Gavi nicht nur aufgebaut, um bei Verteilung und Anwendung des Pneumokokken-Impfstoffs zu helfen. Anfangs konzentrierte sich die Allianz darauf, bereits länger vorhandene Impfstoffe für Kinder besser zugänglich zu machen, etwa die gegen Tetanus und Hepatitis B.

Die Impfstoffe gegen Pneumokokken kamen erst 2010 dazu. Eine ausreichende Versorgung soll durch eine Übereinkunft mit den Pharma-Firmen Pfizer und GSK sichergestellt werden – den beiden einzigen Unternehmen, die diese Impfstoffe herstellen. Beide haben zugesagt, so viel davon für den vereinbarten rabattierten Preis zu produzieren, wie die Empfängerländer abzunehmen bereit sind.

Belgien: In diesen Edelstahlbehältern in einer Fabrik bei Brüssel werden Inhaltsstoffe für Polio-Impfstoffe produziert. Damit der Raum keimfrei bleibt, betreten und verlassen ihn die Arbeitskräfte durch Luftschleusen
Foto von William Daniels

Pfizer brachte 2010 eine neue Mischung namens Prevenar 13 auf den Markt, das gegen den Serotyp 1 wirken soll. Auch das 2009 eingeführte Produkt wurde von GSK ist so konfiguriert, dass man damit die in Afrika und Asien verbreiteten Serotypen bekämpfen kann.

Nach Angaben der Gesundheitsbehörden erreichen die Impfstoffe inzwischen die Familien im ganzen Land. Und in Bangladesch gibt es bisher auch noch keine Welle der „Impfmüdigkeit“. Aber selbst im impffreundlichen Bangladesch wird Saha gefragt, warum man einen weiteren Impfstoff in die Pläne aufnehmen solle. Eine Frage, die sich erübrigt, wenn man mit ihm über die Stationen des Dhaka Shishu Hospital geht. Dort liegen Kinder teilnahmslos unter Sauerstoffmasken, während Angehörige traurig am Krankenbett hoffen, dass die Antibiotika wirken. Und das sind nur die Familien, die es bis ins Krankenhaus geschafft haben. „In den abgelegensten Gegenden“, sagt Saha, „ist die vorbeugende Behandlung mit dem Impfstoff unsere einzige Waffe.“

Sanjida Sahajahan hat es damals als Dreijährige ins Krankenhaus geschafft, aber die Ärzte konnten kaum etwas für sie tun. Sahas Labor hat herausgefunden, welche Pneumokokken ihr Gehirn infiziert haben: Serotyp 1. Selbst wenn Bangladesch 2005 das Geld aufgebracht hätte, wäre Sanjida also nicht geschützt gewesen. „Wir sollten immer daran denken, wie viele Kinder in den zehn Jahren, in denen wir hier auf den Impfstoff gewartet haben, gestorben sind oder Behinderungen davongetragen haben“, sagt Saha. „Aber Gott sei Dank haben wir ihn jetzt.“

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

Demokratische Republik Kongo: Eine Gelbfieberepidemie hat sich 2016 aus dem benachbarten Angola in der Region ausgebreitet. In einem Lieferwagen wurde eine Behelfsklinik für Impfungen eingerichtet.
Foto von William Daniels

Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie den ganzen Artikel in Heft 7/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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