Vom Himmel hoch: Ein Loblied auf den Vogel

Eine vogelfreie Erde? Unerträglich! Der Bestsellerautor und Hobbyornithologe Jonathan Franzen beschreibt die Wunderwelt über unseren Köpfen.

Von Jonathan Franzen
bilder von Joël Sartore
Veröffentlicht am 22. Dez. 2017, 10:16 MEZ
Mit einer Flügelspannweite von fast zwei Metern und seinem gewaltigen Schnabel ist der Doppelhornvogel der König ...
Mit einer Flügelspannweite von fast zwei Metern und seinem gewaltigen Schnabel ist der Doppelhornvogel der König am Himmel Südostasiens. Seine Federn putzt er mit einem Öl, das eine Drüse nahe dem Schwanz absondert.
Foto von Joël Sartore

Die längste Zeit meines Lebens waren mir Vögel völlig gleichgültig. Erst seit meinen Vierzigern geht mir regelmäßig das Herz auf, wenn ich einen Rosenbrust-Kernknacker singen oder eine Rötelgrundammer rufen höre, und ich eile nach draußen, um einen kleinen Goldregenpfeifer zu beobachten, der in der Nachbarschaft gesichtet wurde – einfach nur, weil es ein wunderschöner Vogel ist und weil er es geschafft hat, den ganzen Weg von Alaska herzufliegen. Aber wenn ich gefragt werde, warum Vögel mir so viel bedeuten, kann ich nur seufzen und den Kopf schütteln, als sollte ich erklären, warum ich meine Brüder liebe. Dabei ist es eine berechtigte Frage, über die es sich gerade im Jahr 2018 nachzudenken lohnt, hundert Jahre nach der Verabschiedung des Migratory Bird Treaty Act zum Schutz von Zugvögeln in den USA: Warum sind Vögel wichtig?

Vögel sind keine Kuscheltiere, uns aber in vielerlei Hinsicht ähnlicher als Hunde oder Katzen. Sie bauen raffinierte Wohnungen und ziehen darin Familien groß. Sie machen Winterferien in warmen Ländern. Kakadus können Rätsel lösen, die einem Schimpansen zu schaffen machen. Und Krähen spielen gern: Selbst an stürmischen Tagen habe ich sie beobachtet, wie sie sich aus schierem Vergnügen von Berghängen stürzen und Purzelbäume in der Luft schlagen. Und immer wieder schaue ich mir das YouTube-Video einer russischen Krähe an, die auf einem Plastikdeckel ein schneebedecktes Dach hinunterrutscht und mit dem Deckel im Schnabel immer wieder hochfliegt, um erneut Schlitten zu fahren. 

Doch Vögel tun vor allem etwas, wovon wir nur träumen können: Sie fliegen. Adler nutzen mühelos schwebend die Thermik; Kolibris stehen in der Luft; Wachteln stieben im Schwarm auf, dass einem das Herz stockt. Die Flugwege der Vögel umspannen den Planeten wie hundert Milliarden Fäden, von Baum zu Baum und von Kontinent zu Kontinent. Kein Ziel war ihnen je zu fern. Nach der Brutzeit bleibt ein europäischer Mauersegler auf seinem Weg nach Afrika südlich der Sahara und zurück nahezu ein Jahr lang in der Luft – er frisst, mausert sich und schläft, ohne ein einziges Mal zu landen. Junge Albatrosse streifen bis zu zehn Jahre über dem offenen Meer umher, bevor sie das erste Mal wieder an Land gehen, um zu brüten. Der Knutt, ein kleiner Küstenvogel, fliegt jedes Jahr zwischen Feuerland und der kanadischen Arktis hin und her; ein besonders langlebiger Vertreter dieser Art, nach der Marke an seinem Bein B95 genannt, legte mehr Kilometer zurück, als die Erde vom Mond trennen. 

Es gibt allerdings eine entscheidende Fähigkeit, die wir Menschen den Vögeln voraus haben: Wir beherrschen unsere Umwelt. Vögel können keine Feuchtgebiete schützen, keinen Fischereibetrieb managen, keine Nester klimatisieren. Sie haben nur ihre Instinkte und körperlichen Fähigkeiten. Diese haben ihnen lange Zeit gute Dienste geleistet, 150 Millionen Jahre länger, als es uns Menschen gibt. Doch wir verändern den Planeten – seine Oberfläche, sein Klima, seine Ozeane – inzwischen so schnell, dass Vögel sich durch Evolution nicht mehr anpassen können. Zwar gedeihen Krähen und Möwen auf unseren Müllhalden, Wanderdrosseln und Bülbüls in Stadtparks. Doch die Zukunft der meisten Vogelarten hängt davon ab, wie sehr wir uns um ihren Schutz bemühen. Sind sie uns die Mühe wert?

Der Wert wird heutzutage fast nur noch ökonomisch definiert, im Sinne des Nutzens für den Menschen. Gewiss ist es nützlich, dass wir manche Wildvögel essen können. Oder dass sie ihrerseits lästige Insekten und Nager fressen. Oder dass sie Pflanzen bestäuben, Samen verbreiten, Raubtieren als Nahrung dienen und andere wichtige Aufgaben in Ökosystemen erfüllen, die uns so als Reiseziele oder Kohlenstoffspeicher erhalten bleiben. Manchmal heißt es, Vögel seien wichtige Indikatoren für die ökologische Gesundheit einer Umgebung, wie der sprichwörtliche Kanarienvogel im Bergwerk. Doch müssen sie erst verschwinden, damit uns klar wird, dass eine Landschaft zu verschmutzt, ein Wald abgeholzt oder ein Fischgrund zerstört ist? Die traurige Wahrheit ist: Wildvögel werden niemals direkt zum Wohlstand des Menschen beitragen. Sie wollen eigentlich nur unsere Blaubeeren futtern.

Für etwas anderes sind Vögel allerdings in der Tat nützliche Indikatoren: unsere ethischen Werte. Vögel sollten uns wichtig sein, weil sie unsere letzte und beste Verbindung zur Natur darstellen, die immer mehr schwindet. Sie sind die anschaulichsten Repräsentanten der Erde, wie sie war, bevor der Mensch auf den Plan trat. Sie stammen von den größten Landtieren aller Zeiten ab: Der Hausgimpel, den Sie vor Ihrem Fenster sehen, ist ein winziger, evolutionär wunderbar angepasster, lebender Dinosaurier. Die Ente auf dem Dorfteich sieht so aus und klingt so wie eine Ente im Miozän vor 20 Millionen Jahren. Mag sein, dass wir in einer zunehmend künstlichen Welt, in der federlose Drohnen durch die Luft schwirren und wir „Angry Birds“ auf dem Smartphone spielen, keinen Grund mehr sehen, die einstigen Herrscher im Naturreich zu schätzen und zu schützen. Doch sollte rein ökonomische Kalkulation wirklich unser wichtigster Maßstab sein?

Der ganze Essay von Jonathan Franzen über Vögel steht in der Ausgabe 1/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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