Einen Tag Abtauchen

Regelmäßig beobachtet der Meeresbiologe Laurent Ballesta im Fakarava-Atoll ein faszinierendes Schauspiel: das Zusammentreffen Tausender paarungsbereiter Zackenbarsche mit Hunderten hungriger Haie. 2014 ging Ballesta 24 Stunden nonstop unter Wasser.

Von Laurent Ballesta
Veröffentlicht am 8. Mai 2018, 09:00 MESZ
Graue Riffhai, Fakarava-Atoll
Graue Riffhaie auf der Jagd im Fakarava-Atoll in der Südsee.

Die Chronologie eines einzigartigen Tauchgangs beginnt am Nachmittag.

15 Uhr: Die Sonne scheint, und ich verabschiede mich von meinem Team – und zwar bis zum nächsten Tag. Dann starte ich mit einer Rolle rückwärts in mein 24-Stunden-Abenteuer. Ich bin beunruhigt, habe Angst, hungrig zu werden oder zu frieren. Vor allem fürchte ich, mein ehrgeiziges Ziel nicht zu erreichen: während eines ganztägigen Tauchgangs 18 000 Zackenbarsche und 700 Haie auf einer Fläche von zwei bis drei Fußballfeldern zu beobachten. Die einen vor dem Paaren und Laichen, die anderen beim Jagen und Fressen.

Es gibt keine Chance abzubrechen, selbst aus nur 20 Metern Tiefe aufzusteigen würde sechs Stunden dauern, da mein Blut durch meine Luftmischung von 87 Prozent Helium und 13 Prozent Sauerstoff mit Helium gesättigt sein wird.

Meine Angst weicht der freudigen Erwartung, die Tiere aus nächster Nähe über einen so langen Zeitraum beobachten zu können. Die Strömung hier ist gewaltig, aber vorhersehbar. Sie folgt den Gezeiten, füllt und leert die Lagune im Sechs-Stunden-Rhythmus.

15 bis 18 Uhr: In den ersten drei Stunden sehe ich Schwärme von Zackenbarschen. Eigentlich sind sie Einzelgänger, nur während der Paarungs- und Laichzeit leben sie auf engstem Raum zusammen.

Jedes Jahr im Juni ziehen 17 000 Zackenbarsche in die Lagunenöffnung des Atolls zum Laichen.

18 Uhr bis Mitternacht: Schlafenszeit für die Zackenbarsche. Sie haben sich der Dunkelheit angepasst und ihre Tönung ins Leberfarbene gewechselt, als hätten sie Pyjamas angezogen. Es sind so viele von ihnen, dass nicht alle sichere Verstecke finden können.

In der Nacht wird einer meiner Freunde mich jeweils drei Stunden lang begleiten und mir von zehn Meter oberhalb den Weg leuchten. Antonin trifft mich an verabredeter Stelle, um mein Atemgerät entgegen zu nehmen und es mir so schnell wie möglich aufgefüllt wieder zu bringen. In der Zwischenzeit benutze ich ein Ersatzgerät und warte am Boden.

Die Dunkelheit ist die Zeit der Krebs- und Weichtiere. Mehr als 5000 Arten gibt es in Polynesien. Stunde um Stunde entdecke ich weiteres Nachtgetier. Beim kleinsten Lichtstrahl aus der Taschenlampe verschwindet es sofort wieder in der Tiefe des Riffs. Mir bleibt nur ein kurzer Moment, die Flucht mit der Kamera festzuhalten.

BELIEBT

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    Mitternacht bis 6 Uhr: Alles läuft gut, mir ist nicht kalt, aber ich werde ungeduldig, weil die Barsche noch immer in ihren Verstecken schlafen. Ich bin inzwischen sieben Kilometer in einer Schleife am Riff entlang geschwommen und wieder beim Treffpunkt angekommen. Zum zweiten Mal wechsele ich das Atemgerät.

    Jetzt sind die Haie zu Hunderten am Meeresboden auf der Jagd nach den ruhenden Zackenbarschen. Ein beängstigendes, aber auch beeindruckendes Schauspiel. Yanick leistet mir für ein paar Stunden Gesellschaft mit seiner Spezialkamera, die 1000 Fotos pro Sekunde aufnimmt. Anhand dieser noch nie da gewesenen Aufnahmen sehen wir später, mit welcher Effizienz und Präzision die Haie im Schwarm angreifen. Immer wieder nehmen die Haie auch mit uns Kontakt auf. Von der kleinsten Bewegung, dem kleinsten Lichtstrahl angelockt, schwimmen sie um uns herum. Aber für sie sind wir eher Hindernisse, keine Beute.

    Den Haien entkommen: Zackenbarsch mit klaffender Wunde.

    6 Uhr: Das Licht taucht sanft von der Wasseroberfläche herab, anders als auf der Erde, wo die Sonne hinter dem Horizont aufsteigt. In dem Moment höre ich Wale singen. Leider kann ich sie nicht sehen, vielleicht sind sie weit entfernt. Aber ich bin mir sicher, dass sie für uns singen, und bekomme eine Gänsehaut.

    9 Uhr: Zeit für meinen letzten Nachschub. Mehr Luft, weniger Helium. Es ist der Beginn meiner Dekompression, aber nicht meines Aufstiegs. Den gesamten Morgen bleibe ich noch auf 20 Meter Tiefe. Die Haie sind satt und haben sich beruhigt, die Zackenbarsche beginnen sich zu rühren. Viele der überlebenden Barsche sind verletzt, ihre Flossen angerissen, die Kiemen offen, tiefe Fleischwunden sind zu sehen. Dennoch können die Verletzungen den Akt der Fortpflanzung nicht aufhalten. Dieser Laichgrund wird trotz der massiven Verluste durch die Haiattacken das Überleben der Zackenbarsche sichern. Die extrem starke Strömung wird ihre Eier aus der Lagune in den Ozean spülen.

    Kurz vor 15 Uhr: Die Strömung dreht sich ein letztes Mal und beginnt in die Lagune zu fließen. Meine Zähne schmerzen durch den Druck des Mundstücks. Aber ich fühle mich gut und habe keine Eile aufzutauchen. Dann endlich nähere ich mich der Wasseroberfläche. Mein Team taucht mir schon entgegen.

    Einen Tag später ist der erste Vollmond im Juni: Der Tag an dem die überlebenden Zackenbarsche sich paaren werden. Voller Enthusiasmus tauchen wir erneut, um dem nur Sekunden dauernden Spektakel beizuwohnen.

    Alle sechs Stunden leert der mächtige Gezeitenstrom die Lagune im Fakarava-Atoll.

    Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 5/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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