"Ich staune die ganze Zeit"

Die Meeresbiologin Antje Boetius über die Faszination der Meere – eine Welt, die wir gerade erst kennenlernen.

Von Siebo Heinken
Veröffentlicht am 1. Feb. 2019, 13:11 MEZ
Eine starke Frau: 
Antje Boetius, die Direktorin des Alfred­-Wegener­-Institut in Bremerhaven, mit Schutzanzug für die Arktis ...
Eine starke Frau: 
Antje Boetius, die Direktorin des Alfred­-Wegener­-Institut in Bremerhaven, mit Schutzanzug für die Arktis und Kästen voller Ausrüstung.

Foto von Achim Multhaupt, Laif

Frau Boetius, vor einigen Jahren ist der Regisseur David Ca­meron mit seinem U-­Boot in den Marianengraben getaucht, den tiefsten Punkt der Erde, elf Kilometer unter der Meeres­oberfläche. Hätten Sie ihn gern begleitet?

Wahnsinnig gern. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre es ein U-Boot wie die „Nautilus“ aus Jules Vernes „20000 Meilen unter dem Meer“, mit dem man ein paar Wochen dort unten bleiben kann. Um die Landschaft in Ruhe erkunden zu können.

Was fasziniert Sie so an den Meeren?

Das Unbekannte. Die Tiefsee ist der größte belebte Raum der Erde, und wir haben fast noch nichts von ihm gesehen. Nicht mal ein Promille ist erforscht, weder die Landschaften noch die Lebewesen. Diese Terra incognita fasziniert mich maßlos.

Kaum ein Lebensraum ist so vielfältig, von der bunten Welt der Korallen bis zur Tiefsee. Wie verändert sich diese Welt, wenn man von zehn auf 10000 Meter abtaucht?

Auf zehn Metern ist man heilfroh, dass man aus der Wellenzone raus ist und das Tauchboot endlich ruhig schwebt. Es gibt Licht, es ist blau um einen herum, oft türkisfarben. Auf 100 Meter fängt es an, dämmriger zu werden. Die Umgebung ist stahlblau, und man sieht Quallen, die tonnenförmigen Salpen und immer noch Fische.

Wir sind noch nicht in der Tiefsee?

Nein, noch im Licht, genug für pflanzliche Fotosynthese. Wenn man die Scheinwerfer anstellt, sieht man viele Partikel und Quallen. Eine Weile später, auf 1000 Meter, ist es stockduster. Aber dann ist da dieses wunderschöne Selbstleuchten der Tiefseelebewesen. Wir sind ja in der Zone der Biolumineszenz, wo Fische, Quallen, Tintenfische selber Licht machen.

Und was passiert auf 5 000 Meter?

Da ist man in der großen Tiefseeebene des Pazifiks oder des Südatlantiks. Am Meeresboden sieht man Seegurken, Anemonen und Würmer. Die Tiefsee ist sehr belebt. Wenn man dann noch tiefer auf 10000 Meter geht, ist man in einem der großen Gräben der Erde, zum Beispiel im Marianengraben oder Puerto-Rico-Graben. Dort ist es sehr schlammig. Man sieht noch ein paar Flohkrebse und Seegurken, insgesamt aber wenig Spuren von Leben.

Diese Tiere leben in einer Welt, die im Grunde die Fortsetzung der Welt über Wasser ist, mit Bergen ...


... tiefen Canyons und Ebenen. Unglaublich! Die Landschaft verändert sich alle zehn bis 20 Kilometer und damit auch die Fauna.

Wie viele Arten gibt es in den Meeren?

Wir rechnen mit zehn Millionen Tierarten und wahrscheinlich einer Milliarde verschiedenen Mikroorganismen. Die Schätzungen stammen vom „Census of Marine Life“, einer Art Volkszählung der Meere von 2000 bis 2010. Wir haben natürlich nicht alle Arten gefunden, sondern nur abgeschätzt, wie ungeheuer die unentdeckte Vielfalt ist.

Seegurken fressen die Eisalgen, die von der Unterseite des Meereises auf den Meeresgrund gesunken sind.
Foto von Antje Boetius, Alfred-Wegener-Institut

Wie tief sind Sie selber getaucht?

Mein tiefster Tauchgang führte auf dreieinhalb Kilometer zu Schlammvulkanen und Salzseen im Mittelmeer. In der Arktis habe ich aber mit Robotern gearbeitet, die in bis zu fünf Kilometer Tiefe unterwegs waren.

Sie haben in allen Meeren geforscht. Wie unterscheidet sich der Atlantik vom Indischen Ozean vom Pazifik?

Ich glaube, dass ich erkennen würde, wo ich gerade bin. Die Formen, Farben, der Wellengang, die Strömungen sind jeweils besonders. Und überall ist anderes Leben. Es gibt auch einen Unterschied beim Geruch. Das betrifft vor allem den Unterschied zwischen Küste, Schelfmeer und offenem Ozean.

Wie riecht denn das Schelfmeer, also der Randbereich der Kontinente?

Da riecht es viel mehr nach Algen. Wenn man draußen auf dem of­fenen Ozean ist, hat man hingegen einen bestimmten Geruch des Salzes. Andere Gerüche, die wir gewohnt sind, fehlen dort. Das ist besonders faszinierend.

Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau sprach bei den Meeren einst von einer „Wildnis, die um den Erdball reicht, wilder als der bengalische Dschungel und voll mit Monstern“. Sind die Ozeane eine Wildnis?

Man kann sie immer noch so nennen. Wir streiten uns in der Wis­senschaft aber gerade, ob man die Meere wirklich noch als unbe­rührt bezeichnen darf. Wir haben leider keine Gebiete mehr, die frei von Plastikmüll sind. Deswegen gehöre ich zu der Gruppe, die sagt: Na klar, die Ozeane bergen natürlich mehr Wildnis, als wir sie etwa in Deutschland haben – aber sie sind kein unberührter Natur­raum. Den gibt es nicht mehr.

Auch wo der Mensch nie war, beeinflusst er also die Natur?

Genau. Der Klimawandel hinterlässt sogar Spuren in der Tiefsee, weil sich durch die Erwärmung der Meere die Algen verändern und damit auch die Nahrung, die nach unten fällt. Zudem gibt es Ver­schmutzungen, zum Beispiel giftige Kohlenwasserstoffe, die über die Flüsse reinkommen. Und selbst in der Arktis und Antarktis findet man schon Mikroplastik.

Auf der anderen Seite passieren dort fantastische Dinge – wie die nächtliche Wanderung von Milliarden winziger Krebse aus der Tiefe an die Meeresoberfläche.

Das kann man wohl sagen. Jede Nacht ziehen die zwei Kilometer nach oben und zum Morgen hin zwei Kilometer wieder nach unten – ist das nicht ein Wahnsinn? Was mich als Mikrobiologin sehr beschäftigt, ist die Möglichkeit von Kleinstlebewesen, also Einzel­lern, ururalt zu werden. Das begreifen wir noch überhaupt nicht. Wir kennen unsere Krankheitserreger, und wir wissen auch, dass unsere Darmbakterien sich alle 20 Minuten verdoppeln können. Wir verstehen aber überhaupt nicht, wie es Bakterien geben kann, die sich nur einmal alle tausend Jahre teilen.

Woher wissen Sie das?

Das wurde mithilfe von radioaktiv markiertem Kohlenstoff gemes­sen. Es gibt auch sehr, sehr alte Tiefseetiere, etwa Kaltwasserkoral­len. Und die Riesenschwämme der Arktis, die wohl tausend Jahre alt werden. Das sind ganz andere Dimensionen von Leben. Und man sieht unglaubliche Tiere. Auf meiner letzten Forschungsfahrt im Pazifik hatten wir sehr viele Tiefseekameras dabei – und da war auf einmal eine zwei Meter lange blaue Zunge, die den Meeresboden ableckte. Aber ich sah keinen Körper. Zoologen an Bord erklärten mir, dass es sich um einen Wurm mit einem nur 20 Zentimeter großen Körper handelte, der seine zwei Meter lange Zunge ausstül­pen kann. Es gibt auch wunderschöne Tiere. Etwa quietschbunte Tiefseetintenfische mit riesigen Augen. Die sehen aus wie Kuschel­tierchen. Mich fasziniert die Formenvielfalt: Niedliches und Gru­seliges, Großes und Kleines.

Vor manchen dieser Tiere hatten die frühen Seefahrer furchtbare Angst.

Ja, vor den Riesenkalmaren, die Schiffe verschlucken ( lacht). Es ist eine spannende Frage, weshalb viele Tiere der Tiefsee so gruselig aussehen. Viele sind sehr langsam und warten eigentlich immer nur darauf, dass mal ein bisschen Futter auf sie fällt. Deswegen haben sie so ein riesiges Maul. Viele haben nur Restaugen, die ihnen hel­fen, hell von dunkel zu unterscheiden. Warum sind sie aber gelb, grün, rot, blau, wenn es doch dunkel ist? Die Tiere der Tiefsee sehen einander ja gar nicht. Was sollen die Farben also? Das sind nur Beispiele grundlegender Fragen, mit denen wir uns befassen.

Warum wollen Sie das alles wissen?

Das ist die pure Neugierde auf die Geheimnisse des Lebens. Genau­ so, wie wir wissen wollen, ob es auf einem fremden Planeten Leben gibt, möchten wir erfahren, wie viel es auf der Erde noch zu ent­decken gibt. Das ist doch ganz normal, oder?

Geht es auch um die die Bedeutung der Meere für uns?

Ganz wesentlich! Wir wissen, dass die Ozeane für uns Menschen lebenserhaltend sind. Sie nehmen zum Beispiel 93 Prozent der überschüssigen Wärme auf, die durch den Klimawandel entsteht. Würden sie das nicht tun, wäre es schon jetzt sehr schwierig für uns. Die Ozeane produzieren die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen. Außerdem liefern sie 21 Prozent des Eiweißes, das die Menschheit braucht. Wir holen Gas und Öl aus dem Meer. Unsere Internetkabel verlaufen durch die Ozeane. Sie sind Transportwege. Wir vergessen oft, dass das Meer für all das steht, also auch für unseren Wohlstand. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt in Megastädten an den Küs­ten. Deswegen sind die Konsequenzen des Klimawandels so verheerend für die Menschheit.

Was sind heute die großen Fragen der Meeresforschung?

Wir Biologen würden gern viel mehr über das Tiefseeleben wissen. Weil wir dadurch vielleicht auch ein paar große Fragen der Zukunft klären könnten. Wir brauchen Ideen für intelligente Materialien. Wir brauchen neue Antibiotika, auch sie können die Meere uns liefern. Wir lernen über Symbiose, also das Zusammenleben zwischen Tier und Bakterie. Etwa: Wie ist es möglich, dass Tiere nur die freundlichen Bakterien auswählen und die krankheitserregenden Bakterien draußen lassen? Und dann gehen uns die Wertstoffe an Land aus. Aber können wir die ökologisch verträglich aus der Tiefe gewinnen, Manganknollen ebenso wie Erze?

Was könnte deren Abbau für Folgen haben?

Nehmen wir die Manganknollen. Sie sehen aus wie schwarzer Blumenkohl. Große Roboter-Bagger können sie aufsammeln. Die Knollen sind aber verwachsen mit dem Meeresboden, und wenn man sie wegnimmt, reißt man immer ein Stück Boden ab. An den Manganknollen wachsen Korallen, Tintenfische brüten dort ihre Eier aus. Man würde dieses Leben mit wegreißen und überdies eine gigantische Schlammwolke erzeugen. Das ist alles bedenklich

Ein Tiefseekrake bewacht im Peru-Becken in 4150 Metern Tiefe sein Gelege mit rund 30 Eiern. Das Eigelege ist an die Stängel abgestorbener Schwämme geheftet, welche auf Manganknollen gewachsen sind.
Foto von AWI-OFOS Launcher team

So wird etwas zerstört, das wir noch gar nicht kennen?

Genau. Man müsste gigantische Felder abräumen, damit sich der Abbau lohnt. Wir finden jedoch immer wieder Populationen von Tieren, die sehr kleinflächig die Tiefsee besiedeln, daher müssen wir feststellen: Es sieht also nicht so aus, als könnte man diese großen Flächen einfach so abräumen, ohne Arten zu gefährden. Es geht leider aber um viele sehr seltene Stoffe, die wir in Handys oder Solarpanels verbauen. Sie sind an Land knapp oder ungerecht verteilt. Daher gibt es diese Fantasie von unendlichen Tiefseeressourcen.

Weiß man, wo diese Stoffe zu finden sind?

Ja, ziemlich gut. Man kann sich bei der Internationalen Meeresbodenbehörde schon Lizenzfelder sichern. Noch ist der Tiefseebergbau nicht gestartet. Es gibt aber erste Experimente und Tests von Geräten. Wir hoffen, dass es gute ökologische Rahmenrichtlinien für den Abbau geben wird, bevor es losgeht. Noch mehr, dass es bessere Lösungen geben wird wie das Recycling.

Die mit NATIONAL GEOGRAPHIC eng verbundene Meeres­forscherin Sylvia Earle sagte kürzlich, dass die Meere ster­ben. Hat sie recht?
Das kann ich mir so nicht vorstellen. Es ist aber so, dass der Sauerstoffmangel im Meer zunimmt. Das bedeutet für viele Tierarten eine große Gefährdung. Aber die Meere insgesamt können nicht sterben, vorher sind wir Menschen weg.

Typisches Verhalten: Ein Tieefseekrake sitzt am Grund des Peru-Beckens auf einer Manganknolle. Das Foto wurde mit dem AWI-Tiefseekamerasystem OFOS gemacht.
Foto von AWI-OFOS Launcher team

Wer schützt diese Welt, die wir gar nicht kennen?

Die Meeresbodenbehörde, die unser gemeinsames Erbe der Menschheit schützt, fokussiert vor allem auf Bodenressourcen. Es gibt leider keine Meerespolizei, die zuständig ist, die Lebensvielfalt zu bewahren. Seit wir die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen haben, die fast weltweit akzeptiert sind, ist die Nutzung der Meere bis hin zum Artenverlust zwar eigentlich ausgeschlossen, nur müssen sich alle Staaten auch an die Vereinbarung halten.

Was sind die größten Probleme?

Allen voran der Klimawandel, der die Ozeane erwärmt und versauert. Wir müssen begreifen, dass wir nur noch sehr wenig Zeit haben, um das zu richten. Und dass im Grunde der Mensch selbst am verletzlichsten ist. Viele denken: Wir müssen die Fische schützen. Ich befürchte: Wir müssen uns schützen, denn die Zivilisation ist verletzlich. Ich denke etwa an Überflutungen in Regionen der Erde, wo Millionen von Menschen dann nicht mehr wohnen können. Meine Hoffnung ist, dass wir aufwachen und merken, dass wir uns und gleichzeitig auch die Lebensvielfalt der Meere erhalten müssen. Langfristig bedingt das eine das andere.

Nun werden ja überall Schutzgebiete ausgewiesen.

Geht so. Es gibt immer noch sehr wenige Schutzgebiete im Meer. Gerade ist der Versuch der Europäischen Kommission gescheitert, in der Antarktis das große Weddellmeer-Schutzgebiet auszuweisen – weil es immer noch großes Interesse gibt, dort zu fischen. Es ist dramatisch, dass die Staaten nicht zusammenkommen, um die Situation zu verbessern.

Ihr Großvater fuhr zur See, Sie verschlangen als Kind die Bücher von Jules Verne, sahen Filme der Meeresforscher Jacques­ Yves Cousteau und Hans und Lotte Hass. Das hat Sie geprägt?

Ja, auf jeden Fall. Vor allem auch meine Fantasie. Ich habe mir als Kind schon vorgestellt, dass ein Leben auf den Ozeanen für mich gut sein muss, und so ist es geworden.

Forschung bedeutet immer auch, über Neues zu staunen.

Ich staune die ganze Zeit. Ich bin wahnwitzig neugierig und will immer alles wissen. Wenn ich dann mehr weiß und mir ein Bild mache, löst das bei mir sehr angenehme Gefühle aus.

Wären Sie lieber ein Anemonenschilf im Korallenriff oder ein Wal in der Tiefsee?

(Lacht) Schon lieber ein Wal. Aber – hm, vielleicht wäre ich lieber ein Tiefseeschwamm, der tausend Jahre lang ein bisschen rumkriecht, von allen möglichen Tieren besiedelt ist und so Freunde fürs Leben findet. Also ein perfektes Tier der Tiefsee, das unendlich alt wird und durch verschiedene Zeiten geht. Das wäre vielleicht eher meins.

Dieses Interview stammt aus Heft 1/2019 des National Geographic-Specials. Lesen Sie dort mehr zum Thema "Wunder der Meere"!

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