Wesen wie aus Kristall
In den Regenwäldern Mittel- und Südamerikas leben die Glasfrösche. Die winzigen Amphibien stecken voller Überraschungen.
Der Manduriacu-Glasfrosch (Nymphargus manduriacu) wurde erst vor ein paar Jahren wissenschaftlich beschrieben. Der seltene, gelb gefleckte Frosch ist ein opportunistischer Jäger. Er wartet, bis seine Beute – eine Spinne oder ein kleines Insekt – vorbeikommt, und schlägt dann zu.
Es ist eine mondlose Nacht in den Anden-Ausläufern Ecuadors. Auf einem Blatt über einem Bach sitzt ein winziger männlicher Glasfrosch. Von seiner Pole Position aus will er Weibchen beeindrucken und macht sich in hohen Tönen bemerkbar. Ohne Erfolg. Der kleine Frosch entdeckt ein verlassenes Gelege. Stundenlang setzt er sich daneben, als würde er es bewachen. Dann geschieht etwas: Nach und nach sammeln sich weibliche Frösche. Anscheinend glauben sie, er sei ein erfahrener Vater.
„Dies ist das erste Mal, dass wir über ein solches Verhalten bei Fröschen und Kröten berichten“, sagt Anyelet Valencia-Aguilar, Verhaltensökologin an der Universität Bern. Was wie ein männliches Täuschungsmanöver aussieht, hat sie bei einer Glasfroschart in Brasilien dokumentiert. Sie glaubt, dass sich mindestens zwei weitere Arten in Ecuador ähnlich verhalten könnten. Ihre durchscheinende Haut hat den faszinierenden Amphibien ihren Namen verliehen. Bekannt sind 156 Arten, die in der gesamten Neotropis leben, also in Süd- und Mittelamerika, Florida und der Karibik. Manche von ihnen sind kleiner als eine Büroklammer. Juan Manuel Guayasamin ist Evolutionsbiologe an der Universität San Francisco de Quito in Ecuador. In den letzten Jahren hat er 56 Amphibienarten beschrieben, darunter 14 Glasfrösche. „Diese kleinen Wunder“, sagt er, „überraschen uns immer wieder.“
Bei einigen Glasfroscharten sind die Männchen hervorragende Väter
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bei einigen Glasfroscharten die Männchen hervorragende Väter sind – eine seltene Eigenschaft unter Wirbeltieren. Bei mindestens 24 Arten schützen die Männchen ihre Eier nicht nur vor Fressfeinden – sie versorgen sie auch aktiv, manchmal wochenlang. Nachdem das Weibchen sein Gelege von – je nach Art – 20 bis zu mehr als 100 Eiern abgelegt hat, befruchtet das Männchen sie mit seinem Sperma. Während sich die Embryonen entwickeln, sitzen die Männchen einiger Arten, darunter der Sonnenglasfrosch (Hyalinobatrachium aureoguttatum) und der Fleischmann-Glasfrosch (Hyalinobatrachium fleischmanni), auf ihrem Gelege „wie ein Huhn“, sagt Jesse Delia, Biologe am American Museum of Natural History in New York. Sie versorgen den Laich mit Feuchtigkeit, bis die Kaulquappen schlüpfen. „Der Vater sucht auf Blättern nach Tau, saugt ihn durch eine stark vaskularisierte Region des Bauches in seine Harnblase auf und transportiert ihn dann zu den Babys“, sagt Delia. „Ob sie das Wasser über den Urin oder durch die Haut am Bauch wieder abgeben, wissen wir nicht.“ Als sich vor etwa 25 bis 35 Millionen Jahren die ersten Glasfrösche entwickelten, hätten wahrscheinlich die Mütter die ganze Arbeit geleistet, meint er. Vor etwa acht bis 25 Millionen Jahren übernahmen einige Männchen die Pflege. Warum, ist noch ein Rätsel.
In der Region Sierra Nevada de Santa Marta im Nordosten Kolumbiens schirmt ein weiblicher Magdalena-Riesenglasfrosch (Ikakogi tayrona) seine Eier ab. Diese 2,8 bis drei Zentimeter lange Art ist ungewöhnlich – bei ihr kümmern sich die Weibchen um ihre Embryonen.
Neue Forschungen geben immerhin Hinweise darüber, wie sich der erstaunliche durchsichtige Bauch des Glasfroschs bildet. Carlos Taboada, Biologe an der Duke University in North Carolina, vermutet, dass junge Glasfrösche auf dem Weg ihrer Entwicklung zu transparenten Erwachsenen das Innere ihrer Zellen und das Gewebe physisch neu ordnen. „Es geht nicht nur um die Haut und fehlende Pigmente. Nötig sind transparente Muskeln und innere Strukturen, die das Licht in möglichst wenigen Winkeln streuen“, sagt Taboada. Die Flüssigkeit zwischen den Gewebszellen könnte eine Substanz enthalten, die das Licht kaum ablenkt, was die Trübung reduziert, erklärt er. Taboada untersucht einen weiteren Mechanismus, der es Glasfröschen ermöglichen könnte, optisch mit den grünen Blättern zu verschmelzen, auf denen sie tagsüber dösen. Dieser „biologische Spiegel“, so nennt er es, bestehe aus „einer Art Schild oder Abdeckung aus Kristallen in vielen Teilen ihres Gewebes, die bis zu 50 Prozent des Lichts reflektieren, das sie normalerweise erreicht. Diese Kristalle verstärken außerdem das Licht. Dadurch wirkt das Grün des Frosches heller.“
Transparente Muskeln und innere Strukturen, die das Licht in möglichst wenigen Winkeln streuen
Die Transparenz des Glasfroschs dient außerdem als Tarnung vor potenziellen Fressfeinden wie Vögeln, Spinnen und Schlangen. „Wir nennen diese Art der Tarnung Randdiffusion“, sagt der Evolutionsbiologe Justin Yeager (Universidad de las Américas, Quito, Ecuador). „Wir haben genaue Nachbildungen dieser Frösche aus Gelatine hergestellt. Einige davon waren wirklich undurchsichtig, einige besonders durchscheinend. Es stellte sich heraus, dass die undurchsichtigen öfter gefressen werden.“
Ein Spinnentier frisst die Eier des Smaragdglasfroschs (Espadarana prosoblepon) im Reservat Río Manduriacu im Nordwesten Ecuadors. Die Eltern dieser Art kümmern sich nicht um ihre Jungen, sodass die Eier öfter Räubern zum Opfer fallen.
Wissenschaftler, die Glasfrösche studieren, treibt der Umstand an, dass einige ihrer Probanden verschwinden – und zwar schnell. Die zunehmende Landwirtschaft, Viehhaltung und Bergbauprojekte in den Anden vernichten die ohnehin schon fragmentierten Wälder, in denen die Frösche leben. Das Verbreitungsgebiet mancher Arten, zum Beispiel des Manduriacu-Glasfrosches (Nymphargus manduriacu), beschränkt sich auf ein einziges Flusseinzugsgebiet.
Die International Union for Conservation of Nature listet zehn Glasfroscharten als vom Aussterben bedroht, 28 als stark gefährdet und 21 als gefährdet. „Kaum entdeckt, werden viele Arten für gefährdet erklärt“, sagt Juan Manuel Guayasamin. Doch es könnte von Vorteil sein, solche isolierten Populationen zu erhalten, ergänzt der Evolutionsbiologe. Guayasamin hofft, dass ein Verbund aus Regierungen, Privatunternehmen und gemeinnützigen Organisationen davon überzeugt werden kann, solche froschreichen Landstriche als Reservate auszuweisen, um den empfindlichen Tieren eine solide Überlebenschance zu sichern. „Ranas de cristal [auf Deutsch Kristallfrösche] nennt man sie auf Spanisch“, sagt er, „das ist großartig, denn es beschreibt ihre Zerbrechlichkeit und Schönheit.“
Aus dem Englischen von Anne Sander
Die kolumbianisch-amerikanische Journalistin Angela Posada-Swafford lebt in Miami Beach, Florida, der Fotograf Jaime Culebras in Ecuador. Er hat sich auf gefährdete Reptilien- und Amphibienarten spezialisiert.
Dieser Artikel erschien in voller Länge und mit vielen weiteren Bildern in der August 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!