Freund oder Feind: Warum der Mensch lernen muss mit dem Elefanten zu leben

Die anpassungsfähigen Tiere lernen, mit uns zu leben, aber werden auch wir lernen, mit ihnen zu leben?

Von Srinath Perur
bilder von Brent Stirton
Veröffentlicht am 21. Apr. 2023, 16:08 MESZ
Elefanten in Mysuru

Vor dem Palast von Mysuru, Indien, berühren Elefanten einander mit dem Rüssel. Eine Geste des Trostes? Am Vortag mussten sie an der Dasara-Prozession teilnehmen – von Menschenmassen umringt.

Foto von Brent Stirton

Wir stapfen durch Schlamm, als Nisar Ahmed M. K. sich plötzlich duckt. Das Laub gibt den Blick auf einen Teich frei, in dem einige junge Elefanten planschen und übereinanderkugeln. Der Rest der Herde, etwa 20 Elefanten, schaut ihnen zu. Hinter uns liegen die Unterkünfte einer nahen Kaffeeplantage im südindischen Distrikt Hassan. Es sind schlichte Gebäude mit roten Ziegeldächern. Die Menschen, die dort wohnen, stoßen häufig mit den tonnenschweren Dickhäutern zusammen. Von 2021 bis 2022 kamen in der gleichnamigen Distrikthauptstadt mit ihren 1,8 Millionen Einwohnern zwölf Menschen durch Elefanten zu Tode.

In derselben Zeit starben vier Elefanten – einer wurde erschossen, einer durch Stromschlag getötet, ein weiterer von einem Zug überfahren. Die meisten der etwa 65 Elefanten in der Region tragen Narben, die vermutlich von Schusswunden stammen, erzählt Nisar, Koordinator der Nature Conservation Foundation, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz im einige Stunden entfernten Mysuru. Nisar und seine Kollegen betreiben ein Frühwarnsystem, das Menschen hilft, Elefanten aus dem Weg zu gehen. Wenn Tiere in einem bestimmten Gebiet gesichtet werden, melden Schilder an Straßenkreuzungen ihre Anwesenheit. Warnleuchten gehen an, und Anwohner erhalten Text- und Sprachnachrichten aufs Telefon.

​Müssen Kinder Angst vor Elefanten haben?

Doch wie immer, wenn Menschen mitwirken müssen, ist alles nicht so einfach. Als Nisar an diesem Tag mit seinem Jeep langsam eine unbefestigte Straße entlangfährt, um nach einem mit einem Sender versehenen Tier zu suchen, sieht er eine bunte Ansammlung von Regenschirmen und -mänteln: Menschen, denen nicht bewusst ist, dass nur ein paar Reihen Kaffeepflanzen sie von den Elefanten trennen. Er flucht und hält an, um eine Frau und drei Kinder in Schuluniform aufzugabeln. Die Frau gibt zu, dass sie eine Elefantenwarnung erhalten hat. Aber die Kinder mussten von der Schule abgeholt werden, und sie konnte nur zu Fuß gehen. Ich frage eines der Kinder, ein zehnjähriges Mädchen, ob es Elefanten gesehen hat. Es sieht mich an, als wäre ich verrückt – erst heute Morgen hat es eine Gruppe von 13 Tieren vor seinem Haus gesehen. „Macht dir das Angst?“ „Ja“, sagt es. Dann grinst es und zuckt mit den Schultern, als wolle es sagen: „So ist es nun mal.“

Im indischen Bandipur-Nationalpark bewerfen sich mit Erde. Dieses Verhalten haben sie von ihren Müttern übernommen. Es schützt ihre Haut vor Sonne und Insekten.

Foto von Brent Stirton

So sieht die Realität in Teilen Indiens, Sri Lankas und Südostasiens aus: Elefanten und Menschen machen sich in einer zunehmend vom Menschen beherrschten Landschaft den Platz streitig. Einst waren die höchst sozialen Tiere in ganz Asien, von China bis zum Euphrat, verbreitet. Heute sind die Asiatischen Elefanten vom Aussterben bedroht und kommen nur noch in etwa fünf Prozent ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets vor. Wachsende Städte und Infrastruktur haben ihre Lebensräume zerstückelt. Invasive Pflanzen, die ihre angestammte Nahrung verdrängen, stellen womöglich eine weitere Bedrohung dar.

Obwohl genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, könnte es sein, dass heute weniger als 50000 Asiatische Elefanten in freier Wildbahn leben, 30000 davon in Indien. Forscher und Naturschützer sind sich einig, dass Mensch und Elefant miteinander auskommen müssen, wenn die Art überleben soll. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Von 2020 bis 2022 haben Menschen auf Sri Lanka mehr als 1100 Elefanten getötet; fast 400 Menschen starben bei Zusammenstößen mit Elefanten. In Indien waren es von 2018 bis 2020 300 Elefanten und 1400 Menschen.

​Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben

Ein friedliches Zusammenleben mit einem so intelligenten und anpassungsfähigen Tier erfordert ein tiefes Verständnis seiner sozialen Strukturen. Der Asiatische Elefant ist zwar seit Langem bekannt, aber weit weniger erforscht als der Afrikanische Elefant, vor allem in freier Wildbahn. In den letzten zwei Jahrzehnten haben Forscher wie Prithiviraj Fernando diese Lücken geschlossen und die Unterschiede zur afrikanischen Verwandtschaft aufgedeckt. Er beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit Elefanten, vor allem auf Sri Lanka, wo schätzungsweise 6000 Tiere fast 70 Prozent ihres Lebensraums mit dem Menschen teilen.

„Asiatische Elefanten sind eine Art, die in den Randzonen lebt“, sagt Fernando. Vor allem an Waldrändern fühlen sie sich wohl. Es ist ein sonniger und windiger Septembernachmittag am Kaudulla-Stausee auf Sri Lanka. Der Wasserspiegel ist gesunken. Er hat im Kaudulla-Nationalpark eine weite Ebene mit frischem Gras hinterlassen, auf der 23 Elefanten eifrig grasen. Jennifer Pastorini, die gemeinsam mit ihrem Mann Fernando das gemeinnützige Centre for Conservation and Research leitet, macht Fotos und Videos von der Herde. Sie zeigen zum Beispiel Verletzungen, die beim Zusammentreffen mit Menschen oder anderen Elefanten entstanden sind, und dokumentieren die Beziehungen der Tiere untereinander.

Ein Elefant auf dem Weg zu einem Fest im indischen Kerala. Stundenlange Aufenthalte inmitten von Menschenmassen können für Elefanten traumatisch und schmerzhaft sein.

Foto von Brent Stirton

Soziale Interaktionen lassen sich bei Asiatischen Elefanten schwer untersuchen. Zum einen ist es kompliziert, die Tiere in Wäldern oder Buschland lückenlos zu beobachten. Selbst wenn man sie gemeinsam an einem Ort sieht, sagt Pastorini, „ignorieren sie einander meistens“. Mit wedelnden Schwänzen und schlackernden Ohren stapfen sie im Grasland umher und verbringen rund 16 Stunden am Tag damit, Gräser, Blätter und Rinde zu fressen. Weil sie mehr als 100 Kilo Nahrung am Tag zu sich nehmen, können Asiatische Elefanten ein Aktionsgebiet von Hunderten von Quadratkilometern haben. In der Dämmerung macht sich ein Weibchen mit seinem Kalb in mehr oder weniger gerader Linie über das Grasland in unsere Richtung auf. Auf seiner Route befindet sich eine Gruppe von drei erwachsenen Weibchen und zwei Kälbern. Als das Paar sich der Gruppe nähert, sagt Pastorini: „Mal sehen, ob es eine Interaktion gibt.“ Die Tiere schmiegen sich aneinander und strecken ihre Rüssel nacheinander aus – ein Verhalten, das Verbundenheit signalisieren könnte.

Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass Asiatische Elefanten ähnliche Sozialstrukturen wie Afrikanische Savannenelefanten haben. Oberflächlich betrachtet war dies sicherlich richtig: Beide Arten sammeln sich in Herden, die aus miteinander verwandten erwachsenen Weibchen und Kälbern bestehen. Die Männchen verlassen die Gruppe in ihrer Jugend, also im Alter von acht bis 13 Jahren. Doch der vielleicht bekannteste Aspekt der Gemeinschaften Afrikanischer Savannenelefanten – die Dominanz des ältesten Weibchens als Matriarchin – scheint auf Asiatische Elefanten nicht zuzutreffen. Sie leben in kleineren, weniger hierarchischen und lockeren Gruppen, die sich im Laufe der Zeit trennen und wieder zusammenschließen. Manchmal schließen sie sich auch größeren Clans aus entfernt verwandten Tieren an.

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Foto von National Geographic

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