Wildes Europa: Gibt es bald mehr Begegnungen mit Bären und Wölfen?
Wölfe, Wisente und Bären durchstreifen die Wälder und Bergwiesen der rumänischen Karpaten. Sie sind Protagonisten einer europaweiten Rewilding-Bewegung: Die Natur soll zurückkehren. Wie Rewilding funktioniert und was es für die Menschen vor Ort bedeutet.
Die dichte Population geschützter Braunbären in den Karpaten kann zu Begegnungen mit Anwohnern und Touristen führen. Diese Bärenmutter, der ein Hinterbein fehlt und die nicht mehr jagen kann, ist eine von vielen, die von Autofahrern gefüttert werden.
Mit finsterer Miene steht Florin Horia Baros vor seinem zweigeschossigen, mit Holzschindeln verkleideten Bauernhaus in Sătic, einem Dorf in den rumänischen Karpaten. Gegen Mitternacht hatten den Bauern Geräusche aus dem Schweinestall aufgeschreckt. „Der Bär kam die Straße entlang, über den Zaun, brach die Stalltür auf und griff die Schweine an. Ich habe ihn mit meinen Hunden verjagt“, erzählt er. Ein paar Stunden später kehrte der Braunbär zurück und drang in ein anderes Stallgebäude ein. Jetzt liegen zwei Schweine tot auf dem Hof. Ein drittes lebt zwar noch, wankt aber völlig benommen durch den Stall; die Zähne und Krallen des Bären haben ihm den Rücken zerfetzt. Ein viertes Schwein ist verschwunden.
Baros, der auch Veterinär ist, erwägt, das schwer verletzte Schwein zu erlösen, entscheidet sich dann aber, auf die Ankunft einer örtlichen Kommission zu warten. „Ich möchte, dass sie sehen, was der Bär angerichtet hat“, sagt er.
Konflikte mit Bären
Am Tag nach der Attacke begleite ich Bogdan Sulică. Dessen unaufgeregte Haltung lässt darauf schließen, dass er an schwierige Gespräche gewöhnt ist. Sulică leitet ein Soforteinsatzteam der FundaȚia Conservation Carpathia, einer Stiftung, die sich seit 2009 für den Schutz der bedrohten Wälder und Wildtiere in der Region einsetzt und dafür bei der lokalen Bevölkerung um Unterstützung wirbt. Die Organisation, die sich über internationale Mäzene finanziert und durch ein EU-Programm gefördert wird, arbeitet darauf hin, im Făgăraş-Gebirge im Zentrum Rumäniens einen neuen, mehr als 200.000 Hektar großen Nationalpark zu gründen. Naturschützer sprechen bereits vom Yellowstone der Karpaten.
Es wäre eine einmalige Chance für den ganzen Kontinent, vor dem Hintergrund, dass es in Europa nur noch wenige vergleichbare Wildgebiete gibt, in denen die Natur das Sagen hat. Die bewaldeten Schluchten und bis zu 2500 Meter hohen Gipfel des Făgăraş-Gebirges bilden eine der größten siedlungsfreien Zonen Mitteleuropas und beherbergen spektakulär vielfältige Lebensräume: Nadelwälder mit Feuchtgebieten, alpine Bergrücken und Wiesen sowie montane Zwergweiden-, Ebereschen- und Hängebirkenwälder, dazu Fichten, Weißtannen, Flatterulmen, Bergahorne und Rotbuchen an den tiefer gelegenen Hängen. Mehr als 1500 Pflanzenarten, viele davon endemisch, und seltene Vögel wie Steinadler, Mauerläufer und Habichtskauz sind hier ebenso anzutreffen wie Wildschweine, Wölfe, Luchse – sowie Eurasische Braunbären.
Keine Angst vor Mensch und Hund – und umso schlauer
Sulicăs Aufgabe ist es, zur Beilegung von Wildtierkonflikten in den Städten und Dörfern beizutragen, die im Umfeld des Projektgebiets liegen. Er hat kaum geschlafen. „Dieser Bär hat in den letzten vier Tagen elf Schweine gerissen“, berichtet er. „Noch schlimmer ist aber, dass er keine Angst vor Menschen oder Hunden zeigt. Und er ist schlau. Er kommt nie zweimal an denselben Ort.“
Für Sulică, einen von 149 Mitarbeitern von Conservation Carpathia und aus der Region gebürtig, steht der Traum von einem Nationalpark auf dem Spiel. Im Sommer 2023 gab es binnen zwei Monaten mehrere Dutzend Begegnungen zwischen Mensch und Bär. Ein tierischer Serientäter, auch bekannt als imobiliaru („Immobilienbär“), weil er in Häuser einbrach und Lebensmittel aus Kühlschränken stahl, wurde kürzlich eingeschläfert. „Wir werden danach beurteilt, wie wir mit diesem Problem umgehen“, sagt Sulică.
Cover National Geographic 11/24
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