Der heilige Bär

Der weiße Schwarzbär ist weder ein Albino noch ein Eis­bär, sondern eine weiße Variante des nordame­rikanischen Schwarzbären. Westkanadas Indianer verehren ihn seit je. Jetzt braucht der Bär auch unseren Schutz vor der Zerstörung seines Urwalds.

Von Bruce Barcott
bilder von Paul Nicklen
Foto von Paul Nicklen

An einem Herbstmorgen tappt eine schemenhafte Gestalt hinunter zum Ufer: ein Schwarzbär auf dem Weg zum Frühstück. Es ist Laichzeit, und rund um Gribbell Island an der Küste von British Columbia wimmelt es von Lachsen. Die Insel liegt im Great Bear Rainforest, einem der größ­ten Küstenregenwälder der gemäßigten Zone.

Dunst hängt zwischen den Bäumen, es nie­selt. Auf einer Fläche voller Algen hält der Bär inne, streckt die Nase in die Luft und wittert. Strenger Verwesungsgeruch zieht zu uns herüber. Überall liegen Reste von Keta- und Buckellachsen, wie verheddertes Riedgras. Geisterhaft bewegt sich der Bär am Wasser entlang, sein schwarzes Fell hebt sich kaum von den dunklen Steinen und düsteren Bäumen ab.

Marven Robinson wendet sich gelangweilt ab. «Vielleicht haben wir flussaufwärts mehr Glück», sagt der 43-Jährige zu mir. Er ist ein Mitglied des Gitga᾿at-Stamms, zu dessen tradi­tionellem Territorium Gribbell Island gehört, und arbeitet als Wildnisführer. Dies war nicht der Bär, nach dem er Ausschau gehalten hatte. Er ist hinter einer selteneren Kreatur her, die hier besonders verehrt wird: Die Gitga᾿at nen­nen sie mooksgm᾿ol, „Geisterbär“, für andere ist es der Kermodebär. Ein weißer Schwarzbär!

Dieses Tier ist weder ein Albino noch ein Eis­bär, sondern eine weiße Variante des nordame­rikanischen Schwarzbären. Man findet ihn fast nur hier im Great Bear Rainforest, einer rund 65000 Quadratkilometer großen Wildnis, anderthalb mal die Fläche der Schweiz. Sie er­streckt sich südlich der Stadt Prince Rupert über 400 Kilometer entlang der kanadischen West­küste und umfasst nebelverhangene Fjorde eben­so wie dicht bewaldete Inseln und gletschergekrönte Berge. Grizzlybären, Schwarzbären, Wölfe, Bärenmarder, Buckelwale und Schwert­wale leben an dieser Küste, die seit Hunderten von Generationen die Heimat von indianischen Stämmen wie den Gitga᾿at ist. Hier gibt es Wölfe, die fischen. Hirsche, die schwimmen. Mehr als tausend Jahre alte Riesen-Lebensbäume.

Und diesen Schwarzbären, der weiß ist?

Robinson stapft einen morastigen, von Far­nen und Araliengewächsen gesäumten Pfad hinauf. Seine Stiefel schmatzen im Dreck. Er lässt den Blick schweifen. Schaut, ob sich irgend­wo etwas bewegt. Kein Bär. Dann stockt er. Ein weißes Fellbüschel an einem Erlenzweig! «Sie sind hier irgendwo», sagt er und zeigt auf die zerkaute Rinde. «Sie beißen gern in die Bäume. So markieren sie ihr Revier.»

Eine Stunde vergeht. Robinson wartet geduldig auf einem bemoosten Felsblock. Dann knackt es im Gebüsch. «Da ist er.»

Ich staune, als hätte ich eine Erscheinung.

Der Lebensraum des weißen Schwarzbären und große Teile der Provinz British Columbia sind durch den Bau einer Ölpipeline bedroht. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie hier .

Aus dem Schutz der Bäume tritt ein helles Wesen auf einen Felsen im Fluss. Sein Fell glänzt vor der dunklen Farbpalette des Regenwalds. Es sieht irgendwie schäbig aus. Nicht weiß, mehr wie ein vanillefarbener Teppich, der eine Reini­gung nötig hätte. Der Bär lässt den Kopf nach links und rechts schwingen und hält in einer Stromschnelle Ausschau nach Lachsen. Noch bevor er zuschlagen kann, kommt plötzlich ein dunkler Schwarzbär aus dem Wald – und atta­ckiert seinen hellen Artgenossen. Aber wie in Zeitlupe. Es scheint, als versuchten die Tiere, auch noch die letzte Kalorie für den Winter zu speichern. Der Weiße trollt sich ins Dickicht.

Robinson beobachtet still. Er hat 15 Jahre mit den Geisterbären verbracht und ist noch immer fasziniert. «Der Kermodebär ist sehr unterwürfig», sagt er. «Manchmal rührt mich das. Ich habe einen Beschützerinstinkt. Einmal habe ich gesehen, wie ein altes Tier von einem jüngeren Schwarzbären angegriffen wurde. Ich war drauf und dran, einzugreifen und dem Schwarzen eine gehörige Portion Pfefferspray zu verpassen. Aber dann hat sich der Weiße aufgebäumt und den Gegner abgeschüttelt.» Robinson lächelt. Seine glänzenden Augen ver­raten, dass er nicht gezögert hätte, sich in den Bärenkampf einzumischen.

Dieser Haltung begegne ich im Great Bear Rainforest immer wieder. Nur so konnte der weiße Bär überhaupt überleben. «Unser Volk hat dieses Tier nie gejagt», sagt Helen Clifton. Wir sitzen in ihrer Küche in Hartley Bay, einem von dichtem Wald umgebenen kleinen Fischer­dorf. Der Ruf einiger Raben hallt mystisch über die einsame Siedlung. Die 86-jährige Clifton, feste Stimme und wacher Geist, ist eine Matri­archin der Gitga᾿at, einer von 14 Gruppen des Volks der Tsimshian. Bärenfleisch habe bei deren Ernährung nur selten eine Rolle gespielt, sagt sie. Als europäische Händler Ende des 18. Jahrhunderts den Pelzhandel etablierten, begannen indianische Jäger, Schwarzbären zu jagen. Doch es war ein Tabu, einen weißen Bären zu erlegen – und so ist es noch heute. «Bei Tisch haben wir nicht einmal über ihn gespro­chen», sagt Clifton.

Diese spirituelle Form des Naturschutzes er­wies sich als Glück für den Kermodebären. Die Gitga᾿at und benachbarte Stämme redeten nicht über ihn und sorgten so dafür, dass die Pelzjäger gar nicht erst erfuhren, dass es ihn gibt. Auch heute behalten die Angehörigen der Gitga᾿at und Kitasoo/Xai᾿xais diese Bären während der Jagd­saison genau im Blick. «Ich möchte niemandem raten, ihn auf unserem Territo­rium zu erlegen», sagt Robinson.

Der Great Bear Rainforest ist auch ein Revier des Grizzlybären. Über viele Jahre haben Wilde­rer und Trophäenjäger seinen Bestand dezimiert, eine Papierfabrik und die Produktion von Fisch­konserven verdreckten die Natur. Jetzt sind die Fabriken verschwunden, und in Teilen des Re­genwalds wird nicht mehr gejagt. Die Grizzlybären-Population nimmt zu – und mancher fragt sich, welche Folgen das für die Schwarzbären hat, die von den besten Fischplätzen an den Flüssen verdrängt werden. «Wo man einen Grizzlybären sieht, bekommt man keinen Schwarz- und kei­nen Kermodebären zu sehen», sagt der Wildnis­führer Doug Neasloss vom Stamm der Kitasoo/Xai᾿xais. «Diese Bären machen einen weiten Bo­gen um ihre viel größeren Artgenossen.»

Weshalb gibt es dann ausgerechnet auf Princess Royal Island und Gribbell Island eine solche Konzentration von Kermodebären? «Grizzly- und Schwarzbären leben überall zusammen – außer auf diesen kleinen Inseln», weiß Thomas Reimchen, ein Biologe an der Universität von Victoria. «Denn auf diesen Eilanden finden die Grizzlybären keine ausreichende Lebensgrund­lage. Sie brauchen weite Grasflächen an Fluss­mündungen und ein riesiges Revier. Beides gibt es hier nicht.»

Aber Menschen, die sich kümmern. «Ich erkläre es den jungen Leuten so», sagt Helen Clifton: «Wenn ihr einen Geisterbären seht, dürft ihr das auf keinen Fall hinausposaunen. Wenn ihr es unbedingt jemandem erzählen müsst, dann sagt ihm, ihr habt mooksgm᾿ol gesehen. Man wird verstehen, was ihr meint.»

Biologen kennen die genetischen Gründe dafür, dass Schwarzbären weiß geboren werden können. Sie wissen aber noch nicht genau, wes­halb sich dieses Phänomen erhalten hat. Der Kermodismus wird durch eine rezessive Muta­tion auf dem Gen MC1R ausgelöst – bei Men­schen wird dieses Gen mit rotem Haar und heller Haut in Verbindung gebracht. Um weiß geboren zu werden, muss ein Schwarzbär die Mutation von beiden Eltern erben. Diese müs­sen selber nicht weiß sein. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass weiße Bären schwarze El­tern haben.

Auf dem Festland kommt helles Fell nur bei einem von 40 bis 100 Schwarzbären vor. Auf Princess Royal Island ist einer von zehn Schwarzbären weiß, und auf Gribbell Island einer von dreien. Der Biologe Wayne McCrory von der Valhalla Wilderness Society nennt dieses Eiland «die Mutterinsel der weißen Bären».

(NG, Heft 08 / 2011, Seite(n) 36 bis 52)

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