Parasiten – Der Albtraum der Evolution

Was macht einen Marienkäfer zum Zombie? Die Welt der Parasiten ist faszinierend und unheimlich zugleich.

Von Carl Zimmer
Foto von Anand Varma; Graphic Novel: Matthew Twombly

Zu sehen, wie aus einem Marienkäfer ein Zombie wird, ist wahrhaft traurig.

Marienkäfer sind hoch entwickelte Raubtiere. Ein einziger kann während seines Lebens mehrere tausend Blattläuse fressen. Um eine Beute aus­ zumachen, sucht der Käfer mit Sensoren in seinen Antennen zunächst nach Duftstoffen, die Pflanzen freisetzen, wenn Insekten an ihnen fressen. Sobald er diese Alarmsignale geortet hat, richtet der Marienkäfer seine Sinne auf Moleküle, die nur von Blattläusen abgegeben werden. Dann schleicht er sich an und schlägt seine Kiefer in die Laus.

Marienkäfer selbst sind gegen die meisten Feinde gut geschützt. Ihre oft schwarz­rote Flügeldecke ist eine Warnung an andere Räuber: „Lass es lieber!“ Denn wenn zum Beispiel ein Vogel den Marienkäfer aufpickt, sondert der Käfer aus seinen Beingelenken giftiges, bitter schmeckendes Blut ab. Die meisten Vögel spucken ihre Beute dann angewidert wieder aus. Schnell lernen sie, die schwarz­rote Farbkombination als Warnung zu deuten und Marienkäfer künftig in Ruhe zu lassen.

Ein Räuber, der vor anderen Räubern geschützt ist: Es scheint, als könnte der Marienkäfer ein wunderbares Insektenleben führen. Wären da nicht Wespen, die ihre Eier in seinen Körper legen.

Eine solche Wespe ist die ungefähr drei Millimeter große Brackwespe Dinocampus coccinellae. Die Weibchen dieser Art stechen Marienkäfer in den Bauch und injizieren ihm ein Ei. Bald schlüpft daraus eine winzige Wespenlarve, die sich von der Körperflüssigkeit des Käfers ernährt.

Während der Marienkäfer bereits von innen heraus aufgefressen wird, geht er weiterhin auf Blattlausjagd. Mit jeder Beute ernährt er nun aber indirekt den Parasiten in sich. Etwa drei Wochen später ist die Wespen­ larve so groß, dass sie ihren Wirt verlassen und sich zum ausgewachsenen Insekt weiterentwickeln kann. Dazu zwängt sich die Larve durch einen Spalt im Panzer des Marienkäfers ins Freie.

NG-Animation: Die furchtlose Ratte

Damit ist der Körper des Käfers zwar vom Parasiten befreit, sein Geist aber bleibt gefangen: Der Käfer verharrt an Ort und Stelle, während die Wespenlarve sich unter ihm in einen selbstgesponnenen Seidenkokon hüllt. Darin verwandelt sich die Larve in die geflügelte Wespe. In dieser Phase wäre sie eine leichte Beute für andere räuberische Insekten. Kommt nun aber ein solcher Räuber näher, schlägt der Marienkäfer mit seinen Beinchen um sich und vertreibt den Angreifer. Er ist zum Leibwächter des Parasiten geworden und übt diese Funktion aus, bis die ausgewachsene Wespe nach einer Woche aus dem Kokon schlüpft und davonfliegt.

Erst jetzt sterben in der Regel die meisten der befallenen Marienkäfer. Sie haben ihren Dienst am Parasiten getan.

TED-Video: So leben Parasiten

Diese Geschichte hat sich kein Horrorschriftsteller ausgedacht. Überall auf der Welt werden Marienkäfer in Gärten, auf Äckern und Blumenwiesen von Wespen zu willenlosen Leibwächterzom­bies gemacht. Und es ist nicht nur der Gefleckte Marienkäfer, dem es so geht. Zahllose andere Insekten, aber auch Fische oder Säugetiere werden zu Wirten von Parasiten und dienen deren Zwecken, wobei sie nicht selten umkommen. Doch wie kommt ein Organismus dazu, um den Preis seines eigenen Lebens das seines Peinigers zu sichern, anstatt für sich selbst zu kämpfen? Und wie kommt es zu so verblüffend vielfältigen Verhaltens­ weisen, die ein Parasit seinem Wirt aufzwingt?

Da ist etwa die Schmarotzerfliege, die ihre Eier in Hummeln legt. Die Fliegenlarve entwickelt sich in der Hummel, und im Herbst, kurz bevor sich die Larve verpuppt, um sich in eine Fliege zu verwandeln, zwingt sie die Hummel, sich in den Boden einzugraben. Dort ist sie nicht nur vor Räubern sicher, sondern auch vor der Winterkälte. Im Frühjahr schlüpft dann aus dem Hummelkörper putzmunter eine neue Fliege.

Oder schauen wir auf die in Costa Rica heimische Netzspinne Leucauge argyra. Sie nimmt große Mühen auf sich, um die Bedürfnisse von Hymenoepimecis argyraphaga zu befriedigen, einer anderen parasitischen Wespe. Es beginnt damit, dass die Wespe ein Ei an der Spinne festklebt. Aus dem Ei schlüpft eine Larve. Sie bohrt Löcher in den Hinterleib der Spinne und saugt ihr Blut. Nach einigen Wochen ist die Larve heran­gewachsen. Jetzt wird die Spinne aktiv: Sie zerreißt ihr Netz und baut ein komplett anderes. Es besteht nicht mehr aus vielen dünnen Fäden, in denen sich Insekten verfangen, sondern aus wenigen dicken Strängen, die in einem Punkt zusammenlaufen. Damit hat die Spinne ausgedient. Nachdem die Wespenlarve ihren Wirt ausgesaugt und getötet hat, spinnt sie einen Kokon, der an einem Faden unter dem Zentrum des neuartigen Spinnengewebes hängt. Der Kokon schwebt für hungrige Feinde nahezu unerreichbar in der Luft, bis die fertig entwickelte Wespe schlüpft.

Parasiten können einen Wirt auch dazu zwingen, sie zu bewachen, während sie noch in seinem Inneren leben. Ein Beispiel ist Plasmodium, der Einzeller, der die Malaria verursacht. Bevor er einen Menschen infi­ziert, lebt er in der Stechmücke Anopheles. Die Mücke muss Blut trinken, um zu überleben. Dieses Verhalten ist aber für Plasmodium nicht unge­fährlich: Unter Umständen schlägt das belästigte menschliche Opfer die Mücke tot, dann bekommt der Parasit keine Chance mehr, seinen Le­benszyklus im Menschen zu vollenden. Solange Plasmodium also noch nicht so weit ist, auf den Menschen überzugehen, erzeugt der Einzeller in seinem Wirt eine Abneigung gegen Blut. Anopheles sucht weniger Opfer und gibt schneller auf, wenn sie nicht gleich eine Blutquelle findet.

Doch sobald Plasmodium zur Besiedlung eines menschlichen Wirts bereit ist, veranlasst es die Mücke zum umgekehrten Verhalten: Sie ent­wickelt Blutdurst, wird tollkühn, sucht jede Nacht zahlreiche Menschen auf und sticht selbst dann noch, wenn sie satt ist. Stirbt die Mücke jetzt von der Hand eines Menschen, hat das für Plasmodium keine schlimmen Folgen mehr: Der Parasit ist längst in seinen neuen Wirt umgezogen.

Plasmodium manipuliert und variiert dabei nur das arttypische Ver­ halten seines Wirts, um das nächste Stadium seines Lebenszyklus zu erreichen. Andere Parasiten bewirken radikalere Verhaltens­änderungen. Wie etwa bei den Killi­-Fischen zu beobachten, bunten kleinen Zahnkarpfen, die auch gern von Aquarianern gehalten werden. In der Natur bleiben sie der Wasseroberfläche fern, um nicht von Vögeln gefressen zu werden. Sind sie aber mit parasitischen Saugwürmern infiziert, schwim­men sie weiter oben und drehen sich manchmal sogar auf den Rücken. Ihr silbriger Bauch glitzert in der Sonne und signalisiert: „Friss mich!“ Was auch geschieht. So gelangen die Saugwürmer in den Vogeldarm, wo sie zur Geschlechtsreife heranwachsen und sich fortpflanzen.

In ähnlicher Weise manipuliert ein anderer Parasit das Gehirn von landlebenden Vögeln und Säugetieren, oft von Ratten und Mäusen. Sie werden Wirt und Opfer des Einzellers Toxoplasma gondii. Eine Phase seines Lebens verbringt Toxoplasma im Körper von Vögeln, Ratten und Mäusen, wo der Parasit in Muskeln oder Gehirn Zysten bildet. In diesen Zysten kann er lange überdauern, doch zur Fortpflanzung muss Toxoplasma in den Darm einer Katze gelangen. Wie soll er nun aus dem Gehirn einer Ratte da hin­ kommen? Er muss die Ratte dazu bringen, sich von der Katze fressen zu lassen. Man weiß heute, dass Ratten und Mäuse, die mit Toxoplasma infiziert sind, ihre natürliche Angst vor Katzen verlieren. Manche werden regelrecht neugierig auf den Geruch von Katzenurin – und damit zur leichten Beute. Im Katzendarm pflanzt sich Toxoplasma fort, bildet Vermehrungsstadien, die von der Katze ausgeschieden und von anderen Tieren wieder gefressen werden. Der Zyklus kann weitergehen.

Wie solche bizarren Beziehungen in der Natur entstehen können, be­schäftigt Evolutionsbiologen schon lange. In seinem Buch „Das egoistische Gen“ gab Richard Dawkins auf diese Frage Antworten, die seit nun 40 Jahren auch in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Gene, sagt Dawkins, entwickeln sich in der Evolution so, dass sie möglichst erfolgreich Kopien von sich selbst herstellen können. Für uns mag unser Körper wichtig sein. Aus Sicht unserer Gene ist er nur ein Vehikel, das die Gene in die nächste Generation transportiert. Die Gesamtheit aller Gene, die jeden von uns zu dem machen, was er ist, nennt man Genotyp. Das äußere Erscheinungsbild und die Fähigkeiten, die dieser Genotyp hat, nennt man Phänotyp.

Dawkins überlegte, dass der Phänotyp nicht auf das Körperliche beschränkt sein müsse, sondern auch Verhaltensweisen umfasst, die durch Gene erzeugt werden. Die Gene eines Bibers lassen ihn wie einen Biber aussehen, formen Knochen, Muskeln und Fell. Sie sorgen aber auch für die Entstehung von Schaltkreisen im Gehirn, die den Biber veranlassen, Dämme zu bauen. Der Teich, der dann entsteht, dient dem Biber – und damit seinen Genen – auf vielfache Weise. Er ist etwa in seinem vom Wasser umgebenen Bau für Raubtiere schwerer zu erreichen.

Hat eine Mutation – eine zufällige Veränderung der Gene – zur Folge, dass ein Biber bessere Dämme baut, hat dieser spezielle Biber-Phänotyp eine noch größere Chance zu überleben und mehr Nachkommen zu erzeugen. Die alle wieder dieses neue, veränderte Gen tragen. So wird die Mutation im Laufe vieler Generationen immer häufiger. Aus Sicht der Evolution sind der Damm und sogar der Teich, den er entstehen lässt, ebenso ein Produkt der Bibergene wie der Körper des Bibers selbst.

Dawkins nennt dies „erweiterter Phänotyp“.

Der nächste gedankliche Schritt ist dann naheliegend: Wenn die Wirkung bestimmter Gene die Umwelt verändern kann, kann sie dann nicht auch Verhaltensweisen von Lebewesen verändern, die mit dem Träger der Gene in Beziehung stehen? Zum Nutzen dieser Gene? Dawkins beantwortete diese Frage mit ja. Als Musterbeispiel nannte er die Parasiten. Die Fähigkeit eines Parasiten, das Verhalten seines Wirts zu steuern, ist in seinen Genen angelegt. Wenn eines dieser Gene mutiert, hat dies folgerichtig auch Einfluss auf das Verhalten des Wirts.

Jede Mutation ist zunächst einmal zufällig. Sie kann dem Träger der Gene, in diesem Fall dem Parasiten, nützen oder schaden. Mutiert ein Grippevirus so, dass sich seine infizierten Opfer einschließen und verhungern, kann sich der Erreger kaum auf andere Wirte ausbreiten. Diese Gen-Variante wird bald wieder aus der Viruspopulation verschwinden. Eine Mutation dagegen, die das Verhalten des Wirts im Sinne des Parasiten günstig beeinflusst und ihm mehr Nachkommen beschert, wird häufiger. Ereignet sich beispielsweise bei einer Wespe eine Mutation, durch die sie einen Marienkäfer veranlassen kann, als Leibwächter ihrer Larven zu dienen, wird es bald mehr Wespen mit diesen Genen geben.

Als Dawkins diesen Gedanken in den achtziger Jahren entwickelte, war er seiner Zeit weit voraus. Vor etwas mehr als 30 Jahren hatten die Biologen erst an wenigen Beispielen erforscht, auf welche Weise Parasiten das Verhalten ihrer Wirte beeinflussen. Doch mittlerweile können sie mit neuen Methoden die Gene und ihre Wirkungen viel besser untersuchen. Und tatsächlich nachweisen, wie Parasiten das Gehirn ihrer Wirte zum eigenen Vorteil manipulieren. Wie die Juwelwespe Ampulex compressa.

Der Stich dieser Wespe macht aus einer Schabe einen willenlosen Zombie. Die Schabe kann sich zwar bewegen, tut es aber aus eigenem Antrieb nicht mehr. Ohne Widerstand zieht die Wespe ihr Opfer an den Antennen in ihren Bau. Dort legt sie ein Ei auf den Bauch der Schabe. Die steht einfach nur da und wartet, bis die Wespenlarve aus dem Ei schlüpft und sich in ihren Hinterleib bohrt.

Das Wirtsinsekt verlor seinen Willen, als die Wespe ihren Stachel auf raffinierte Weise in das Gehirn der Schabe führte und dabei spürte, welche Areale die Bewegungen steuern. Diese Nervenzellen flutete die Juwelwespe mit einem Cocktail chemischer Substanzen, die wie Psychopharmaka wirken. Sie dämpfen exakt die Aktivität jener Nervenzellen, die normalerweise auf Gefahr reagieren und die Schabe zur Flucht veranlassen.

Das Resultat stimmt mit Dawkins’ Theorie vom erweiterten Phänotyp überein: Die Gene, die die Giftmoleküle erzeugen, beziehen die Küchenschabe in den Überlebensplan der Wespe ein und schaffen eine ideale Kinderstube für die Wespennachkommen. Solche Gene, die das Verhalten des Wirts steuern, wurden bereits entdeckt. Zum Beispiel bei Baculoviren. Diese Viren infizieren die Raupen mehrerer Schmetterlingsarten. Der Parasit dringt in die Zellen des Wirts ein und sorgt dafür, dass sie neue Baculoviren produzieren. Die Raupe sieht äußerlich ganz normal aus. Aber die Nahrung, die sie zu sich nimmt, dient fortan als Energie zur Herstellung weiterer Viren. Wenn ihre Anzahl groß genug ist, ändert die Raupe ihr Verhalten. Anstatt sich vor Feinden zu verbergen, klettert sie auf einen Baum und bleibt weit sichtbar auf einem Blatt oder auf der Rinde sitzen. Entweder wird sie dort bald von einem Vogel gefressen, der die Viren weitergibt. Oder sie stirbt und zerfällt zu einer breiigen Masse, aus der die Baculoviren auf Blätter am Boden herabregnen, wo sie von anderen Raupen gefressen werden.

Tatsächlich fanden Biologen das Virus-Gen, das die infizierte Raupe zum Klettern veranlasst. Es erhielt die Bezeichnung „egt“. Als die Wissenschaftler dieses Gen ausschalteten, konnten die Parasiten zwar wie bisher in die Zellen der Raupen eindringen und sich dort vermehren. Mit der Zeit verwandelten sich die Raupen auch nach wie vor in infektiösen Schleim. Aber Bacoluviren ohne ein funktionsfähiges „egt“-Gen brachten die Raupen nicht mehr dazu, in Bäumen nach oben zu klettern. Dass ein Parasit das Verhalten seines Wirts mit einem einzigen Gen manipuliert, ist aber wohl eine Ausnahme. In der Regel wird das Verhalten eines Tieres durch mehrere Gene gesteuert. Vermutlich lenken also auch die meisten Parasiten ihre Wirte über das Zusammenspiel mehrerer Gene.

Und was wurde aus der Wespe Dinocampus coccinellae und ihrem Wirt, dem Marienkäfer? An der Universität Montreal machte die Biologin Fanny Maure eine verblüffende Entdeckung: Die Wespe, die ihr Opfer zu einem gefügigen Leibwächter ihrer Larven macht, handelt möglicherweise selbst unter Fremdkontrolle eines dritten Lebewesens. Denn wenn die Wespe ihr Ei in einem Marienkäfer ablegt, injiziert sie gleichzeitig einen Cocktail aus chemischen Substanzen – und ein Virus, das sich in den Eierstöcken der Wespe vermehrt. Es gibt Hinweise, dass es dieses Virus ist, das den Marienkäfer an Ort und Stelle bannt, damit er den Kokon mit dem Nachwuchs der Wespe vor Feinden schützt.

Nach den Prinzipien der Evolution dient das den Interessen von Virus und Wespe: Wenn die Wespe einen Marienkäfer zum Leibwächter macht, entstehen mehr Wespen. Mehr Wespen bringen mehr Viren hervor. Deshalb wirken ihre Gene zusammen bei Verwandlung des Marienkäfers zur Marionette. Damit ist Dinocampus coccinellae vielleicht gar nicht der eigentliche Puppenspieler. Vermutlich versteckt sich in der Wespe noch ein anderer, der in Wirklichkeit die Fäden zieht.

(NG, Heft 11 / 2014, Seite(n) 88 bis 107)

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