Strom, Licht, Autos: Indiens neue Revolution

Während die USA die Kohleindustrie wiederbeleben wollen, wendet sich Indien erneuerbaren Energien, LED-Beleuchtung und elektrischen Autos zu.

Von Stephen Leahy
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:34 MEZ
TERI-Universität in Neu-Delhi, Indien
Solarbetriebene LED-Beleuchtung erhellt den Eingang zur TERI-Universität in Neu-Delhi, Indien. Das Land plant, in den nächsten Jahren vollständig auf neue Technologien umzusteigen.
Foto von Udit Kulshrestha, Bloomberg, Getty

WIEN, ÖSTERREICH – Indien befindet sich mitten im „größten Energieumwandlungsprojekt der Welt“, wie die Organisatoren des Wiener Energieforums am 11. Mai erklärten, als sie den Hauptredner vorstellten: Piyush Goyal, den Energieminister Indiens.

„Mit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 hat sich alles verändert. Wir müssen das Wirtschaftswachstum von den Folgen für die Umwelt abkoppeln und eine bessere Welt hinterlassen“, sagte Goyal unter dem lauten Applaus von 1.650 Energieexperten und Regierungsvertretern in Wien. „Jeder Moment zählt.“

„Solche visionären und progressiven Äußerungen habe ich von einem weltweit führenden Land noch nie gehört“, erzählte mir danach der Premierminister von Tuvalu, Enele Sopoaga. Der kleine Inselstaat im Pazifik liegt gerade mal fünf Meter über dem Meeresspiegel, dessen Anstieg durch die Klimaerwärmung bereits Tausende dazu gezwungen hat, das Land zu verlassen.

„Indien erkennt die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen“, sagte Sopoaga.

Das Land beeilt sich sehr damit, seine Energiesysteme auf Öko-Standard umzustellen, um Arbeitsplätze zu schaffen, die Lebensqualität seiner Bürger zu erhöhen, Luft und Wasser sauberer zu machen und, ja, den Klimawandel anzugehen, so sagen die Führer des Landes. Man bedenke, dass es sich dabei um ein Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern handelt, von denen fast 300 Millionen keinen Zugang zu Strom haben, und dessen durchschnittliches Jahreseinkommen bei knapp über 1.400 Euro liegt.

Aktuell ist noch Kohle der Hauptenergieträger, aber Indien ergänzt den Strom bereits durch 50 Prozent mehr Wind- und Solarenergie, als die gesamten USA aktuell einsetzen. Es tauscht 770 Millionen Leuchtmittel auf Straßen und in Haushalten durch energiesparende und langlebige LEDs aus und bringt zum ersten Mal Stromanschlüsse in Zehntausende ärmliche Dörfer. Und Indien schafft all das schneller, als es irgendjemand für möglich gehalten hätte.

„Indien ist das Aushängeschild für saubere Energien ... das zu zeigen, ist keine Bürde, sondern das Gegenteil“, sagte Vivien Foster, eine Energieökonomin der Weltbank. „Das ist eine großartige Gelegenheit.“

EINE REVOLUTION DES LICHTS

Man hofft, dass der Austausch durch LED-Beleuchtung im gesamten Land bis 2019 abgeschlossen ein wird – nur vier Jahre, nachdem das Programm 2015 angekündigt wurde, kurz nach der Wahl des Premierministers Narendra Modi. Zuvor hatte sich Indien zugunsten seiner wirtschaftlichen Entwicklung auf Kohle festgelegt, genau wie China vor 25 Jahren. Aber nun versucht Modi, Indiens Zukunft an die Technologien des 21. Jahrhunderts zu knüpfen.

Allein die Einsparungen der 770 Millionen Lichter in Haushalten und auf Straßen werden Indiens Spitzenwerte bei der Stromnachfrage um 20.000 Megawatt (MW) senken und die Kohlendioxid-Emissionen jährlich um circa 80 Millionen Tonnen reduzieren. Das entspricht fast den CO2-Emissionen von Chile im Jahr 2015. Das verringert im großen Maßstab den Bedarf nach mehr Kraftwerken und wird mehr als 6 Milliarden Euro pro Jahr einsparen.

Und all das wurde ohne staatliche Förderung erreicht.

Indien ist führend in einem Geschäftsmodell namens Energy Service Company (ESCO), dessen einziger Gewinn in den Energiekosteneinsparungen besteht, die es seinen Kunden liefern kann. Staatliche Stromversorger haben ein ESCO-Unternehmen namens Energy Efficiency Services Limited (EESL) gegründet, das seit seiner Inbetriebnahme ausschließlich Profite eingefahren hat. Das Unternehmen hat mit Herstellern von LEDs zusammengearbeitet, um die Kosten für diese Leuchtmittel in weniger als drei Jahren um 85 Prozent zu senken. Indien bekommt jetzt den niedrigsten Preis überhaupt, erzählt Goyal in einem Interview.

EESL war so erfolgreich, dass es kürzlich eine dreijährige und etwa 115 Millionen Euro teure Investition in Großbritannien angekündigt hat, um dort den Energieeffizienzmarkt zu erschließen, der auf 7 bis 9 Milliarden Euro geschätzt wird. Einen großen Teil davon hofft EESL zu erobern, indem es neben LEDs auch energieeffiziente, erneuerbare Energielösungen mit niedrigem CO2-Ausstoß fördert.

In den USA gibt es nichts, das mit einem landesweiten LED-Konversionsprogramm vergleichbar wäre. Viele Städte in den Vereinigten Staaten ersetzen Straßenleuchten zwar durch LEDs, um Millionen Dollar an Energiekosten zu sparen, aber es ist ein langsamer Prozess. Das Smart Lighting Project von Chicago, das 270.000 Leuchtmittel austauschen will, begann im April und wird erst 2021 abgeschlossen sein. In Washington, D.C. könnten 71.000 Straßenleuchten durch das Streetlight Modernization Project ausgetauscht werden, aber das wird erst 2018 beginnen.

BELIEBT

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    Ein 430 Euro teures Solarpaneel wird auf einem kleinen, ländlichen Supermarkt im indischen Dorf Sullya Taluk installiert. Der Eigentümer hofft, die Verluste durch Kerosineinsparungen ausgleichen zu können.
    Foto von Scott Eells, Redux

    DIE GROSSE SOLARWELLE

    Auch Indiens Sektor für erneuerbare Energien wächst mit Lichtgeschwindigkeit. Auf der Pariser Klimakonferenz im Dezember 2015 überraschte Modi viele mit seiner Ankündigung, dass Indien bis 2022 160 Gigawatt (GW) an Wind- und Solarenergie auf die bestehenden 26 GW aufschlagen würde. Die gesamten USA haben aktuell nur knapp über 100 GW. Ein Gigawatt kann 100 Millionen Heim-LEDs mit Energie versorgen.

    „Das ist ein ambitioniertes Ziel“, sagt der Energieexperte Niklas Höhne. Er ist der Gründer des NewClimate-Instituts, einem europäischen Forschungszentrum. „Es gibt da eine erhebliche Dynamik, und jetzt denken zwei indische Staaten darüber nach, zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umzusteigen, was bemerkenswert ist.“

    „Ökostrom ist nicht mehr teuer oder schwer zu bauen, und er passt gut zu unseren Bedürfnissen“, so Goyal. Bei all den Vorteilen sollte jedes Land diesen Weg einschlagen, fügt er hinzu.

    Indiens Boom bei Solar- und Windenergie hat die Kosten dramatisch gesenkt: Sie fielen von 12 Cent pro kWh auf nur 4 Cent pro kWh für Solarenergie. Das ist billiger als Kohle. Ein Ergebnis davon wird sein, so die Hoffnung Goyals, dass nach 2022 kein neues Kohlekraftwerk mehr gebraucht werden wird. Einige Analysen deuten darauf hin, dass die Stromerzeugung in einigen der bestehenden indischen Kohlekraftwerken teurer ist als der Bau neuer Solaranlagen. Goyal glaubt, dass Indien bald alle Importe von Kraftwerkskohle stoppen wird.

    Diese Gewinne sind speziell im Hinblick auf Indiens beträchtliche wirtschaftliche und soziale Herausforderungen beeindruckend, sagt Höhne.

    Was die 300 Millionen Einwohner ohne Zugang zu Elektrizität angeht, so ändert sich auch das. Der letzte Haushalt wird 2019 angeschlossen werden, glaubt Goyal – drei Jahre vor Indiens Zieljahr 2022.

    „Premierminister Modi ist in armen Verhältnissen aufgewachsen. Er weiß, wie es ist, keinen Strom zu haben. Er hat sich der Verwirklichung dieses Ziels vollständig verpflichtet“, sagt Goyal.

    Indiens Energierevolution könnte das Land bald transformieren. Sie schafft aber auch „Lösungen, die andere Länder auf der Welt reproduzieren und so ihren eigenen nachhaltigen Energiewandel durchführen können“, sagt Rachel Kyte. Sie ist die Firmenchefin von Sustainable Energie for All und die Sondergesandte des UN-Generalsekretärs.

    ELEKTRISCHES FAHREN

    Elektrische Autos sind der nächste große Zug, auf den Indien aufspringen will. Das Land hat eine Studie in Auftrag gegeben, die untersuchen soll, wie die gesamte Fahrzeugflotte des Landes bis 2030 zu 100 Prozent elektrisch angetrieben werden könnte. Das ist bisher noch kein offizielles Regierungsziel.

    Aber Goyal glaubt, dass bis zu diesem Datum elektrische Autos die einzigen Fahrzeuge sein werden, die noch verkauft werden – wegen der niedrigen Betriebskosten, der geringen Wartung oder Reparaturen und der langen Lebensdauer. Die Batterien werden auch sehr gut als Speichergeräte für Solar- und Windenergie funktionieren. Es werden auch keine Subventionen nötig sein, da Indien Benzin bereits auf Weltdurchschnittsniveau besteuert – also 50 Prozent höher als die USA.

    „Wir machen das alles, auch wenn es niemand sonst macht. Wir müssen eine große Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen“, sagte Goyal.

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