Das Meer am Ende der Welt
Vor Feuerland befindet sich eines der grossartigsten Meeresökosysteme der Welt. Der Klimawandel hat hier noch keine dauerhaften Spuren hinterlassen – und in Argentinien kämpfen viele dafür, dass das so bleibt.
Die Thetis Bay liegt fast an der Spitze von Feuerland in Argentinien. Nur die Wenigsten kommen je an diesen südlichsten Punkt Amerikas.
„Das ist ein schlechter Ort für die Schifffahrt“, schrieb Captain James Cook 1768 in sein Tagebuch. Zukünftige Besucher warnte er, sie sollten sich von dem Seetang fernhalten, der hier wächst. Die Bucht bietet allerdings auch einen gewissen Schutz vor der berüchtigt rauen See und dem tosenden Wind der Region. Ich leitete dort im Frühjahr 2018 eine Expedition von Pristine Seas, einer Initiative der National Geographic Society. Begleitet wurde ich von Claudio Campagna, der sein Leben der Aufgabe gewidmet hat, die Meeressäuger Argentiniens zu studieren und zu schützen. Wir wollten wissenschaftliche Informationen sammeln, einen Film produzieren und damit die Voraussetzungen für ein neues Meeresschutzgebiet schaffen.
Die Einrichtung solcher Schutzgebiete – Nationalparks im Meer – ist meine Lebensaufgabe. In den vergangenen zehn Jahren hat das Team von Pristine Seas in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern vielen Regierungen geholfen, ins gesamt mehr als fünf Millionen Quadratkilometer der Ozeane vor Bedrohungen zu schützen.
Die Expedition zur Spitze Feuerlands war mir besonders wichtig, weil ich zu der Region eine persönliche Beziehung habe. Schon 1973 leistete mein wissenschaftlicher Mentor Paul Dayton dort bahnbrechende wissenschaftliche Arbeit. Er und seine Mitstreiter trotzten dem Polarwind, Hagel und Schnee und tauchten in der Thetis Bay und vor der östlich davon gelegenen Isla de los Estados (Staateninsel). Sie vermaßen den Riesentang und zählten die wirbellosen Tiere unter den Wipfeln des Tangwaldes, der die Küsten säumt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand diesen außergewöhnlichen Lebensraum studiert.
Eine unserer Aufgaben war es, Daytons Untersuchungen zu wiederholen und möglichen Wandel zu dokumentieren. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, welche dramatischen Veränderungen die Fischerei und der Klimawandel in den Ozeanen anrichten – allen voran das Absterben der Korallenriffe sowie das Abschmelzen des Arktiseises im Sommer. Was würden wir im Meer vorfinden, 45 Jahre nachdem Dayton hier geforscht hatte?
Als Claudio Campagna und ich auf den Strand traten, war uns sofort klar, dass wir auf einem Massengrab standen. Bei jedem Schritt zerbröselten alte Seelöwenknochen unter unseren Füßen; sie waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Jägern hinterlassen worden. Wir fanden Schädel von riesigen Männchen, aber auch von kleinen Jungtieren. Man hatte die Seelöwen und Pelzrobben wahllos abgeschlachtet wegen der Pelze oder des Fetts, aus dem man Tran kochen konnte.
Seit den Siebzigerjahren werden diese Arten von der argentinischen Regierung gesetzlich geschützt, aber erholt haben sich die Bestände noch nicht. Nach Angaben von Wissenschaftlern gibt es nur noch ein Fünftel so viele Seelöwen in der Region wie vor 70 Jahren. Ursachen sind vermutlich die stark gesunkene Zahl fortpflanzungsfähiger Weibchen und die gravierenden Folgen der industriellen Fischerei. „Früher hat man die Robben direkt getötet, und heute nehmen wir ihnen die Nahrung weg“, sagt Campagna. Drei Tage vor unserem Besuch in der Thetis Bay hatten wir im Hafen von Ushuaia einen 110 Meter langen Supertrawler gesehen. Seine Netze waren so groß, dass ein Dutzend Jumbojets darin Platz gehabt hätte. Solche Grundnetztrawler sowie Langleinen scher operieren am Rand des Kontinentalsockels vor Feuerland, wo die Tiefsee beginnt.
Näher an der Küste ist das Wetter die meiste Zeit des Jahres so ungemütlich, dass es kaum jemand auf sich nehmen mag, in der Thetis Bay und vor der Isla de los Estados zu tauchen. Wir hatten Glück und konnten die Unterwasserwelt rund um die Insel bei relativ ruhigen Bedingungen zwei Wochen lang erkunden.
In den kalten, nährstoffreichen Gewässern gedeihen Wälder aus Riesentang. Sie bilden die Grundlage für eines der großartigsten Meeresökosysteme der Welt. Die Stämme der Farne reichen aus bis zu 45 Meter Tiefe bis an die Oberfläche und wachsen in manchen Fällen bis zu einem halben Meter am Tag. Auch wenn der Riesentang die Oberfläche erreicht hat, wächst er weiter. Durch das entstehende Kronendach fällt das Sonnenlicht ein wie durch die farbigen Glasfenster einer Kathedrale
Paul Dayton hatte uns seine handgeschriebenen Notizbücher kopiert und zugeschickt; die Seiten sind mit detaillierten Beobachtungen dieser Meereslandschaft aus dem Jahr 1973 gefüllt. Wir trugen sie bei uns wie einen Schatz. Von der Oberfläche aus scheinen alle Riesentangwälder gleich zu sein, aber unter Wasser sieht die Sache ganz anders aus.
Dayton hatte festgestellt, dass jede Bucht ihre Besonderheiten hat: ihre eigene ökologische Persönlichkeit. In einer waren die Tangpflanzen nur mit einer oder zwei Muschelarten besetzt, in einer anderen von Weichkorallen und in einer dritten von jungen Seegurken.
Zu unserer Verblüffung beherbergen die Tangpflanzen in den verschiedenen Buchten auch heute noch die gleichen Arten. Offensichtlich haben sich die ozeanografischen Bedingungen in den vergangenen 50 Jahren kaum verändert: Der Klimawandel hat hier noch keine dauerhaften Spuren hinterlassen.
Erstaunt waren wir auch über die Fülle der Lebensformen. Jeder Quadratzentimeter Meeresboden war von Lebewesen besetzt: weiße und gelbe Schwämme, rosafarbene Algenkrusten, Manteltiere, die aussehen wie Lollis. Manche Riesentangpflanzen biegen sich unter dem Gewicht der auf ihnen wachsenden Muscheln bis zum Boden. Blaue Seesterne knabberten gemeinsam mit Schnecken und Einsiedlerkrebsen an den Muscheln.
Ein Jahr zuvor waren wir auf der chilenischen Seite dieses Ökosystems auf riesige Ansammlungen einer anderen Krebsart gestoßen: auf Chilenische Königskrabben. In zwei Schichten bedeckten sie den Boden, viele weitere kletterten am Riesentang hoch und ließen sich wie Fallschirmspringer auf ihre Artgenossen fallen – und auf unsere Köpfe!
An einem Tag legten wir beim Tauchen eine Pause ein und wagten uns an den Rand der Tiefsee außerhalb des Kontinentalsockels. Das Yaganes-Becken ist das Kernstück eines riesigen Meeresökosystems, das am Zusammenfluss von Pazifik, Atlantik und Südpolarmeer von der Südspitze Chiles und Argentiniens bis zur Antarktis reicht. Wir hatten Dropcams mitgebracht: Kugeln aus Borsilikatglas, die Kameras und Scheinwerfer von Kinoqualität umschließen. Ein System von Gewichten zieht die Kameras in die Tiefe und lässt sie Stunden später wieder auftauchen – manchmal mit einem Schatz nie gesehener Aufnahmen vom Meeresboden. Die Dropcams enttäuschten uns nicht. Als wir die Filme sahen, blieb uns der Mund o en stehen. Seehechte und andere Tiefseefische schwammen um die Dropcam herum. Einmal näherte sich ein dicker roter Tintenfisch der Kamera und verschwand dann in einer explodierenden Farbwolke. Viele dieser Arten werden in dem Meeresbecken zu stark befischt. Dass wir sie hier noch sehen konnten, ist ein gutes Zeichen, dass ihre Bestände sich erholen, wenn die Menschen es zulassen.
Eine Weile nach der Expedition tauschten wir unsere Tauchanzüge gegen Businessanzüge und sprachen mit argentinischen Beamten über den Meeresschutz. Alex Muñoz, bei Pristine Seas der Direktor für Lateinamerika, berichtete den Behörden über die Ergebnisse unserer Expedition und den Plan, ein Yaganes-Meeresschutzgebiet einzurichten. Zeitgleich hatte unser Dokumentarfilm über die Expedition in Buenos Aires Premiere und brachte den Argentiniern die Wunder des Meeres im Yaganes-Becken und vor Feuerland nahe.
Im Dezember beriet das argentinische Parlament in einer Sondersitzung über den Vorschlag. Wir waren nervös. Das Gesetz zur Einrichtung des Parks musste nach argentinischem Recht vom Repräsentantenhaus und vom Senat verabschiedet werden.
Anfang Dezember stimmte das Repräsentantenhaus ab. Das Gesetz wurde mit 196 zu null Stimmen angenommen – eine Unterstützung für den Naturschutz, wie ich sie auf diese Weise noch nie erlebt hatte. Mitte Dezember gab auch der Senat seinen Segen. Ein Jahr zuvor hatte Chile bereits südlich des Kap Hoorn einen eigenen Meeresnationalpark ausgewiesen. Kaum zu glauben: 40 Jahre zuvor hätten die beiden Länder wegen territorialer Streitigkeiten im Gebiet südlich von Feuerland beinahe einen Krieg angefangen, und jetzt wollten die Präsidenten die Region zu einem maritimen Friedenspark erklären – und zum wohl größten grenzüberschreitenden Meeresschutzgebiet überhaupt.
Ich habe den Eindruck, dass der Ozean hier trotz des erbarmungslosen Bestrebens der Menschen, ihn zu zerstören, ein kleines Stück seines Lebens zurückgewonnen hat. Durch die Weitsicht zweier Regierungschefs wird das großartige Ökosystem am Ende der Welt auch in den kommenden Jahren unversehrt bleiben.
Diese Reportage stammt aus Heft 7/2019 des National Geographic-Magazins!