Phänomen Phänologie: Warum Jahrhunderte Evolution jetzt neu justiert werden müssen
Blätter fallen früher und Buckelwale kommen zu spät: Viele Prozesse in Tier- und Pflanzenwelt sind an die Jahreszeiten angepasst. Verschieben sich diese durch den Klimawandel, wird das natürliche Gleichgewicht gestört.
David Inouye fand heraus, dass die Ankunft der Breitschwanzkolibris aus Mexiko früher mit der Blüte des Großblütigen Hundszahns zusammenfiel, deren Nektar sie benötigen. Heute beginnen die Lilien oft zu blühen, ehe die Kolibris auftauchen.
Dafür, dass ein Fremder gerade einen Wangenabstrich genommen hatte, war Anchor erstaunlich ruhig. An diesem kühlen Abend in West Central Colorado war das elf Monate alte männliche Gelbbauchmurmeltier in eine Käfigfalle gelaufen. Jetzt nahmen Wissenschaftler Proben seiner DNA, um zu messen, wie schnell das Fellknäuel wuchs. Seit 1962 haben Forscher auf dieser Hochgebirgswiese das Sozialverhalten der Murmeltiere erfasst. In letzter Zeit haben sie sich außerdem damit beschäftigt, wie die Erderwärmung den Zeitplan der Natur verschiebt und die Gesundheit der Murmeltiere beeinflusst. Jedes Frühjahr erwachen die Murmeltiere aus ihrem Winterschlaf. Sie paaren sich, bringen Junge zur Welt und fressen sich den Sommer über voll, ehe sie sich wieder in den Winterschlaf zurückziehen.
„Es geht darum, fett zu werden oder zu sterben“, sagte mir Conner Philson, Doktorand an der UCLA. Er hielt Anchor in einer dunklen Tasche aus Kevlar, um zu verhindern, dass das Tier ihm mit seinen riesigen Schneidezähnen einen Finger abtrennte. Nachdem sie dem Murmeltier ein Stück Schaumstoff zur Entnahme von Zellproben in den Mund geschoben hatte, maß Mackenzie Scurka, UCLA-Masterstudentin und Philsons Kollegin, eine winzige Pfote mit einem Messschieber ab. Schließlich dankte Philson seinem Probanden dafür, dass er uns nicht mit Kot überschüttet hat. „Es ist doch viel schöner, wenn sie in die Falle kacken und nicht auf uns“, kommentierte er. Das Verhalten der Murmeltiere verändert sich. Aufgrund des Klimawandels kommen sie heute etwa einen Monat eher aus dem Winterschlaf und müssen deshalb früher im Jahr auf Nahrungssuche gehen. Trotzdem werden die meisten Murmeltiere, wie Forscher mithilfe von Anchor herausfinden konnten, groß und bleiben gesund. Ihr frühes Aufwachen verschafft ihnen zusätzliche Zeit zum Fressen.
So bringt der Klimawandel die Natur aus dem Takt
So werden sie dicker und können mehr Nachkommen produzieren. Der sich verschiebende Zeitplan der Natur scheint für Murmeltiere bisher von Vorteil zu sein. Doch das ist eine Ausnahme, nicht die Regel. Timing ist alles in der Natur. Von den ersten Tönen des Frühlingsgesangs der Singvögel bis hin zum saisonalen Lärmpegel von Knallkrebsen – jeder bedeutende Prozess in der Ökologie spielt sich nach einer Uhr ab: Blüte. Eiablage. Brut. Migration. Das gilt für die Steppen der Mongolei ebenso wie für das Arabische Meer oder den Regenwald in Costa Rica. Jahrhunderte der Evolution haben diese Muster erschaffen. Jetzt werden sie neu justiert, bedingt durch den Klimawandel. Weltweit bemüht sich die Forschung, den Ablauf der Ereignisse im Lebenszyklus zu dokumentieren – eine Disziplin, die als Phänologie bekannt ist.
Der Ablauf gerät durch unsere Emissionen aus fossilen Brennstoffen ins Kippen. Wohin die Wissenschaft auch blickt: Fast überall erkennt man Veränderungen. Die Zeitpunkte von Blattaustritt und Blattabwurf haben sich bereits auf mehr als der Hälfte des Planeten dramatisch verschoben. Buckelwale im Golf von Maine sammeln sich 19 Tage später als einst; Stachelmakrele, Seehecht und Rotbarsch im Nordpazifik laichen früher. Im Red River Valley in North Dakota stellten Wissenschaftler fest, dass 65 von 83 Vogelarten vorzeitig eintreffen, manche von ihnen sogar 31 Tage.
Der Wissenschaftler David Inouye (ganz rechts) hat 50 Sommer damit zugebracht, Blumen, Kolibris und Insekten auf hochalpinen Wiesen im Rocky Mountain Biological Laboratory um den Ort Gothic in Colorado zu beobachten.
Anpassung an den Klimawandel: Von Art zu Art unterschiedlich
Schwieriger zu ermessen ist die Schwere der Folgen – für Pflanzen, für Tiere und für uns. Wenn sich alles in dieselbe Richtung und um ungefähr dieselbe Spanne verschöbe, erwiese sich der neue Kalender als irrelevant. Doch so funktioniert die Natur nicht. „Die Arten reagieren nicht identisch“, sagt der Biologe David Inouye. Der emeritierte Professor der University of Maryland ist ein führender Phänologe. Zu viele Muster verändern sich, und alles geschieht überall und gleichzeitig. Selbst Lebewesen, die sich scheinbar nicht verändern, erleben, wie sich ihre Umwelt wandelt.
Schneeschuhhasen, Dsungarische Zwerghamster, Halsbandlemminge und Langschwanzwiesel tragen im Winter ein weißes Fell, um sich im Schnee zu tarnen. Heute sind sie oft nicht mehr an ihre Umgebung angepasst. Immer häufiger sieht man sie mit ihren weißen Körpern vor dem Hintergrund grüner Wälder, brauner Büsche oder einer gelben Tundra kauern. Der Schnee fällt später und schmilzt früher, während ihr Farbwechsel weiter durch die Veränderungen des Tageslichts ausgelöst wird, das sich seinerseits nicht verändert.
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