Die Brennnessel-Revolution: Wie eine Naturfaser den Textilmarkt erobert

Seit Jahrtausenden werden Brennnesselfasern zur Herstellung von Stoffen und Textilien genutzt. Jetzt könnten sie einen neuen Siegeszug antreten – Dank einiger Initiativen und Forschungsprojekte.

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 21. Mai 2024, 14:16 MESZ
Brennnessel

Die kleinen Brennhaare auf dem Stiel und den Blättern der Brennnessel geben ihr den Namen.

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Kleidung oder Textilien, die aus Brennnesselfasern hergestellt werden – das klingt zunächst sehr neu und innovativ. Dabei ist die Brennnessel als Faserpflanze schon uralt: Bereits in der Steinzeit werden Nesselfasern verarbeitet und in der Bronzezeit, als Hanf und Flachs schon kultiviert sind, werden Brennnesselfasern aufgrund ihrer besonders feinen und seidigen Stoffe geschätzt. 

Ab dem Mittelalter mausert sich die Brennnessel zu einem der wichtigsten Faserlieferanten bei der Textilherstellung, da sie – im Gegensatz zur Baumwolle – auch im mittel- und nordeuropäischen Raum wächst. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verliert die Naturfaser allerdings an Bedeutung und wird mehr und mehr durch günstigere Baumwollimporte ersetzt. 

Das könnte sich nun wieder ändern. Der Bedarf an natürlichen Faserstoffen steigt und die Industrie sucht verstärkt nach Alternativen zu industriell geschaffenen und erdölbasierten Fasern. Prognosen gehen davon aus, dass die Nachfrage nach Naturfasern innerhalb der nächsten 25 Jahre um etwa 300 % steigen könnte – unter anderem auch nach Brennnesselfasern.

Eine Herausforderung der biobasierten Fasern? Nutzbares Land

Ein Problem bei Naturfasern: Der Anbau benötigt viel Land. Schätzungen zufolge wird allein in Frankreich für biobasierte Faserpflanzen bis 2035 eine Fläche von etwa 300.000 Hektar benötigt. Damit steht der Anbau von Faserpflanzen in direkter Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion. 

Mit genau dieser Herausforderung hat sich ein Team internationaler Forschender beschäftigt. „Wir haben uns angesehen, wie man Brennnesseln als Faserpflanzen auf Flächen kultivieren kann, die sonst ungenutzt bleiben würden“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Jörg Müssig von der Hochschule Bremen, einer der beteiligten Wissenschaftler am Projekt NETFIB. Ziel des Projektes war es, den Brennnesselanbau auf Böden zu erforschen, die sich nicht zur Lebensmittelproduktion eignen oder sogar kontaminiert sind. Außerdem sahen sich die Forschenden an, welche Ökobilanz die Brennnessel im Vergleich zu herkömmlichen Bastfasern wie Hanf bietet und ob aus den vielseitigen Pflanzen mit den Brennhaaren auch neue biobasierte Verbundwerkstoffe hergestellt werden können. Die Ergebnisse sind erstaunlich.

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    Hauptakteur der Studie: Die Große Brennnessel, lat. Urtica dioica L.

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    Eine Pflanze mit Potenzial: Die Große Brennnessel

    Im Zentrum der Studie stand die Große Brennnessel, lat. Urtica dioica L.. Die mehrjährige Pflanze ist vor allem für ihre Brennhaare an Blättern und Stamm bekannt, die bei Berührung auf der Haut ein unangenehmes Brennen und Jucken verursachen. In erster Linie ist dies eine Selbstschutzmaßnahme des Gewächses, denn die Brennhaare sind ein äußerst effektiver Abwehrmechanismus gegen Insekten und Pflanzenfresser. 

    Das Potenzial dieser Brennnessel als Nutzpflanze ist groß: Sie ist kaum anfällig für Schädlingsbefall und Krankheiten, benötigt wenig Wasser und wächst in Stauden, wodurch wenig Arbeit zur Aussaat und Bodenbestellung anfällt. Da sie auch in kälteren Klimazonen gedeiht, kann sie in mittel- und nordeuropäischen Regionen angebaut werden. Der Anbau erfordert wenig Pestizide und Düngemittel, zudem sind ihre Verwendungsmöglichkeiten vielfältig: „Ihre Fasern sind nicht nur für Textilien geeignet, sondern auch für den Einsatz in Verbundwerkstoffen“, so Prof. Müssig. Zum Beispiel könnten sie statt Glasfasern verwendet werden. Einige Untersuchungen zeigten, dass Brennnesselfasern ebenso steif sind wie industriell hergestellte Glasfasern.

    Die Superpower der Brennnesseln: Ein natürlicher Schadstofffilter

    Brennnesselfasern bringen noch einen weiteren entscheidenden Vorteil gegenüber industriell hergestellten oder anderen pflanzlichen Fasern mit: Sie wachsen auch auf marginalisierten Flächen, also Böden, die für die Landwirtschaft ungeeignet sind. Damit ist eine der größten Hürden beim Anbau von Pflanzenfasern bereits genommen, denn das bedeutet, dass Landflächen genutzt werden könnten, die für die Produktion von Nahrungsmitteln ungeeignet sind. 

    Doch dem nicht genug: Da es sich bei der Brennnessel um eine sogenannte nitrophile Pflanze handelt, kann sie sogar die Bodenqualität verbessern, zum Beispiel bei Böden, die zu hohe Nitrat- und Phosphatwerte aufweisen. Brennnesseln helfen, die Bodenqualität zu verbessern und Schadstoffe aus marginalisierten Böden zu extrahieren. Damit kann die Brennnessel eine wichtige Rolle im Phytomanagement spielen, also der Sanierung von verunreinigten oder kontaminierten Flächen mithilfe von Pflanzen.

    Eine Studie der Uni Besançon betrachtet die Wirkung von Brennnesseln, die in Kombination mit Pappeln angepflanzt wurden, im Hinblick auf Bodenqualität und Biomasse. Die positiven Effekte waren schnell erkennbar: Nicht nur waren durch die Bepflanzung brachliegende, kontaminierte Flächen wieder bewachsen, es konnte auch mehr Biomasse generiert werden. „Brennnesseln unterstützen nicht nur die Bodensanierung, sondern tragen auch zur Schaffung von Lebensräumen für Wildtiere bei“, so Prof. Müssig.

    Brennesselklone könnten den Anbau effizienter machen

    Das, woran auch schon frühere Initiativen rund um den Brennnesselanbau scheiterten, waren die Profitabilität und die Skalierbarkeit. Jedoch, so fand das Forschungsteam heraus, scheinen die Fasern der Brennnessel und deren Ertrag weniger von Anbaumethoden oder Umweltbedingungen abzuhängen, sondern vom Genotyp der Pflanze. Normalerweise hat die Große Brennnessel lediglich einen Faseranteil von etwa 10 Prozent. „Zudem sind aus Samen gezogene Brennnesseln inhomogener“, erklärt Prof. Müssig die Herausforderungen bei der Fasergewinnung. „Sie können sich also schlecht gegen Unkraut behaupten und weisen oft einen geringeren Fasergehalt auf.“ 

    Die Fasern werden über einen Prozess aus Trocknung, Entholzung, einem mechanischen und manchmal enzymatisch oder chemisch unterstützten Aufschluss, und einem anschließenden Kämmvorgang aus dem Stiel der Brennnesseln gelöst. Danach können die Fasern zu Garnen versponnen werden.

    Foto von Lothar Lenz - stock.adobe.com

    Die Lösung: Brennnesselklone. „Das Konzept der Brennnesselklone beruht auf genetisch identischen Pflanzen, die durch vegetative Vermehrung entstehen“, erklärt Müssig. „Historisch wurden Brennnesselklone seit den 1920er Jahren von Wissenschaftlern wie Gustav Bredemann entwickelt, um einen höheren Fasergehalt für textile Zwecke zu erreichen.“ Ein ganz besonders erfolgreicher Klon ist etwa der Klon B13 der Großen Brennnessel. „Er wurde aufgrund seiner hohen Faser- und Trockenmasseerträge selektiert“, so Müssig. Und der kann sich sehen lassen, denn der Faseranteil von B13 liegt bei bis zu 22 Prozent.

    Eine zukunftsfähige und ressourcenschonende Alternative

    Seit Ende der 1990er Jahre gibt es zur Brennnessel Forschungsprojekte in ganz Europa und selbst mittelständische Unternehmen versuchten den Anbau von Brennnesseln zur Fasergewinnung – bisher gab es jedoch kaum Interesse von Großinvestoren. „Mit Projekten wie NETFIB, die das Potenzial der Nesselfaserproduktion auf marginalisierten Böden und die Möglichkeit der Nutzung der Fasern in Verbundwerkstoffen für technische Anwendungen klar herausstellt, könnte sich dies in Zukunft ändern“, hofft Prof. Müssig. „Landnutzungskonflikte zwischen Nahrungs- und Nicht-Nahrungsproduktion lassen sich durch die Verwendung kontaminierter Flächen für den Anbau von Pflanzen für technische Produkte entschärfen“, so das Fazit des Forschers. Das macht den Anbau von Brennnesseln nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen attraktiv. Die Nutzung der Großen Brennnessel als Faserlieferant bietet eine vielversprechende und zukunftsfähige Alternative für einen bewussteren Umgang mit den endlichen Ressourcen auf unserem Planeten.

    Cover National Geographic 5/25

    Foto von National Geographic

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