Atemberaubende Landschaften: Englands Kreideflüsse
Englands Kreideflüsse quellen mit glasklarem Wasser aus dem porösen Gestein. Angler verehren sie. Umweltschützer versuchen, bedrohte Bereiche zu renaturieren.
Ein Eisvogel jagt wenige Zentimeter über einem Bett Gelber Teichrosen im Dorset Stour. Elritzen, Groppen und junge Forellen sind seine bevorzugte Beute.
Das Sonnenlicht, das auf den Grund des Flusses fällt, sprenkelt den Kies unter den Füßen. Rundum bewegt sich das Wasser, unaufhörlich und friedvoll, nie drängt die Strömung. Ein Fluss wie aus dem Bilderbuch – das Wasser so durchsichtig wie in einem Aquarium. Die Forellen scheinen in der Luft zu schweben. Kreideflüsse – das klingt erst einmal nach milchigweißem Gewässer. Tatsächlich kommt der Name aber von dem Gestein, über dem die Flüsse verlaufen. Alkalisch, mineralreich, mit gelöstem Kalziumkarbonat, aber fast ohne Sediment fließen sie über sauberen Kies ins Meer – ein Paradies für Fische und eben deswegen auch für Angler. Die Gewässer sprudeln aus Quellen, die sich aus tiefen Grundwasserleitern im Kreidegestein speisen. Sie fließen durch Täler, die von Wasserminze und Sumpf-Vergissmeinnicht gesäumt sind. Anders als Flüsse, die über härteres Gestein strömen, fließen diese Gewässer gleichmäßig durch die sanften Kreidelandschaften im Süden und Osten Englands Kreide ist eine reine Kalksteinart, die aus den winzigen Schalen von Meeresorganismen besteht.
„Himmlische Gefilde“
Diese Ablagerungen findet man weltweit, doch in England brachten die geologischen Schübe, die vor etwa 40 Millionen Jahren die Alpen aufgefaltet haben, einen großen Teil davon an die Oberfläche. Kreidegestein ist porös und zerklüftet. Regen, der darauf fällt, verschwindet im Boden und braucht manchmal Monate, um durch die Hügel zu sickern. Das wirkt wie ein Speicher und beschert den Flüssen ruhige Konstanz – Regengüsse führen nicht zu Überschwemmungen, bei Trockenheit strömen sie weiter. Das Wasser nimmt die Temperatur des Gesteins an, zehn bis zwölf Grad das ganze Jahr über. Pflanzen und Tiere finden so in den Kreideflüssen verlässliche Kontinuität. Wer in so einem Fluss schnorchelt, findet sich „in einer völlig anderen, fesselnden Welt wieder“, sagt Nicola Crockford, Naturschützerin bei der Royal Society for the Protection of Birds. Als eingefleischte Flussschnorchlerin kennt sie den Wasserhahnenfuß, dessen weiße Blüten sich zunächst unter Wasser entfalten, oder den leuchtend grünen Teich-Wasserstern, um dessen Büschel sich Forellen und Äschen tummeln.
Auf dem Kiesbett wirken die Larvenköcher der Köcherfliegen wie winzige Stöckchen. Getigerte Jungforellen stehen zitternd in einem festen Winkel zur Strömung, nie bleiben ihre Körper ruhig. Weiter weg verschwinden größere Fische in der grünen Dunkelheit. Wer mit diesen Flüssen verbunden ist, spricht mit unverhohlener Liebe von ihnen. Zam Baring etwa betreibt mit seinen Geschwistern The Grange in Itchen Stoke in Hampshire, eines der führenden Weingüter Englands für Schaumweine. Er ist Angler, seit er denken kann, und hat als stellvertretender Vorsitzender des Wessex Rivers Trust an zahlreichen Flussrenaturierungen mitgewirkt. Seine Reben, sagt er, hielten „ihre Köpfe in die Kreidelandschaft der Hampshire Downs und ihre Zehen in den sprudelnden Oberlauf des Flusses Itchen“. Wate man in dem Nebenfluss unterhalb des Weinbergs, sagt er, „dann wähnt man sich in himmlischen Gefilden“.
Bedrohung durch menschliche Eingriffe
Dabei geht es nicht um Wasserläufe in einer entlegenen Wildnis. „Die Kreideflüsse bieten Schönheit vor unserer Haustür“, sagt Charles Rangeley-Wilson, Autor, Journalist und Angler. „Aber gerade deshalb sind sie auch so sehr bedroht.“ Menschliche Eingriffe begannen schon vor Tausenden von Jahren. Mitte des 20. Jahrhunderts setzten Veränderung und Zerstörung zu einem Crescendo an. Städte und Landwirtschaft verschmutzten die Flüsse. Grundbesitzer stauten oder verbreiterten sie, verringerten ihre Fließgeschwindigkeit, begradigten ihren Lauf und entfernten umgestürzte Bäume – die Anglern das Leben schwer machen, aber Fischen und anderen Flussbewohnern nützen.
Die Verlangsamung eines Flusses führt dazu, dass sich dicke Schlickschichten auf dem Flussbett absetzen und den Kies bedecken, dessen saubere, belüftete Zwischenräume Forellen und Lachse zur Eiablage benötigen. Nützliche Wildpflanzen – Brutstätten für wirbellose Tiere – wachsen nur im klaren, strömenden Wasser. Ohne die Pflanzen bricht das Insektenleben zusammen, mit seinen zahlreichen Arten von Eintagsfliegen, Steinfliegen und Köcherfliegen. Ohne die Insekten aber keine Fische, ohne Fische keine Otter. Mehrere Flusskilometer des Itchen und des berühmten River Test, der sich bis zu seiner Mündung bei Southampton durch die Kreidelandschaft von Hampshire schlängelt, wurden in bequeme Anglerparks umgewandelt, mit sorgsam gemähten Ufern, malerischen Angelhütten und riesigen Zuchtforellen. Die Gebühren für das Angeln an den berühmtesten Abschnitten können sich auf mehr als 500 Euro pro Tag belaufen. Verschwunden sind dagegen die vielfältigen ökologischen Nischen eines naturbelassenen Flusses.
Cover National Geographic 5/25
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