Die Sinne der Pflanzen

Völlig anders als gedacht, können Pflanzen fühlen, sehen, hören und kommunizieren. Biologen sprechen von einer „kopernikanischen Wende“, die unser Bild vom strohdummen Grünzeug erschüttern könnte.

Von Andreas Weber
Foto von Thomas Ernsting

Zusammenfassung: Von wegen „strohdummes Grünzeug“ - Pflanzen erbringen erstaunliche Sinnesleistungen. Zwar besitzen Bäume und Pflanzen keine Nervenzellen. Aber sie produzieren Hormone, mit denen sie Sinnesreize durch ein feines Adergeflecht zu ihren eigenen Organen übermitteln – auf diese Weise fühlen, sehen, hören und kommunizieren sie.

Schauen Sie aus dem Fenster. Sehen Sie dort einen Baum? Wie er in den Him­mel ragt, fest und still, allenfalls die Blätter vom Wind bewegt? Vielleicht sind Sie ein bisschen gerührt von so viel Alter, Stabilität und Reglosigkeit. Viel­leicht sind Sie ein bisschen in Sorge, dass Ihr Baum der nächsten städtischen Beschneidungs­aktion zum Opfer fällt. Oder der Ordnungswut des Nachbarn, an dessen Gartenrand er steht. Wie viele andere Menschen verspüren Sie wo­ möglich eine gewisse Sympathie für das große hölzerne Monument dort in Ihrem Blickfeld. Für das kühle Kronendach im heißen Sommer. Für das leere Filigran der Äste im Winterhim­mel. Schön ist er ja, so wie er dort steht, bewe­gungslos und stoisch. Von dem, was um ihn herum vorgeht, bekommt er aber wohl wenig mit, fühlt weder Angst noch Schmerz. Oder etwa doch?

Schauen Sie noch einmal hin. Und dann fol­gen Sie František Baluškas Worten. Der groß gewachsene Slowake mit dem kuge­ligen, kahlen Schädel forscht am Botanischen Institut der Universität Bonn. Zusammen mit ein paar Hundert anderen Biologen weltweit ergründet Baluška, wie Pflanzen ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie miteinander und mit an­ deren Lebewesen kommunizieren. Hier haben sich in den vergangenen Jahren ein paar Dinge gezeigt, die unsere Vorstellungen von Pflanzen, aber auch von Lebewesen insgesamt, umkrem­peln. Blicken Sie auf den Baum, festgefügt und unbeweglich. Folgen Sie dem Stamm in die Erde, in eine kompakte und feuchte Welt, die nach Nähr­salzen schmeckt, eine Welt der winzigen Gänge zwischen Sandkörnern, ausgefüllt mit den Körpern von Pilzen, Wurzelhaaren, Einzellern, Bakterien, und kleinen Wirbeltieren. In diesem gedrängten Kosmos, dessen Oberfläche für uns eine undurchdringbare Grenze darstellt, lebt der Baum. Ohne dass wir davon besonders viel ahnen.

„Stellen Sie sich vor, dass eine Pflanze unter der Erde genauso groß ist wie darüber“, emp­fiehlt Baluška. Eine alte Buche, so hoch wie ein sechsstöckiges Haus, dehnt ihre Wurzeln im Boden genauso weit aus wie ihre Krone. Nicht in die Tiefe allein, sondern eher in die Breite. Die Wurzeln verzweigen sich, teilen sich auf, verästeln sich in viele Milliarden haarfeine Spitzen. Und diese Spitzen sind in Bewegung. Sie durchwandern das Erdreich ohne Unterlass. Mit einem Millimeter pro Stunde schiebt sich jedes Wurzelende, getrieben von nachwachsen­ den Zellen, durch den Boden voran. Unabläss­lich. Kilometerweit. „Stellen Sie sich jede Wur­zelspitze wie einen Astronauten vor, der von seinem Raumschiff durch das dunkle Univer­sum getragen wird“, sagt Baluška.

Und wie ein Astronaut kann jede Spitze ihren Weg selbst bestimmen. Die Wurzeln betasten Sandkörnchen, sie wittern Salze, sie begleiten mikroskopische Wasseradern auf ihrem Weg. Und sie identifizieren die Wurzeln junger Schösslinge, die aus den Samen des eigenen Baumkörpers gesprosst sind, umschlingen sie schützend, und nähren sie mit Zuckerlösung. An der Oberfläche, in unserer Sphäre, hält der Baum still. Darunter wandern seine Finger durch die Tiefe, ist er, auch im Winter, in Bewegung. „Das wahre Leben der Pflanze findet unter der Erde statt“, meint Baluška. „In Wahrheit ist das, was wir Boden nennen, ein Gewebe aus sich bewegenden Pflanzenkörpern.“ Die Blätter da­rüber tanken nur die Energie dazu im Himmel. Hätten Sie sich eine Pflanze so vorgestellt? Eben. Die meisten Botaniker auch nicht.

Eine aufregende Umbruchstimmung be­herrscht die Wissenschaft der Pflanzen. Während große Gentechnikfirmen ver­suchen, Mais und Soja wie Roboter auf höhere Erträge, weniger Wasserbedarf und Spritz­mittelresistenz zu programmieren, finden Botaniker immer mehr Indizien, dass Pflanzen keine reglosen Materiebrocken sind, keine Bioautomaten, keine, wie Baluška gern sagt, „Zombies“. Derzeit durchzieht ein Riss nach dem ande­ren unser lange dominierendes Bild von der passiven Pflanze, die im Grunde nicht wesentlich mehr sei als ein von selbst nachwachsender Rohstoff für die Bau­ und Möbelindustrie sowie dummes Grünfutter. Die von uns postulierte Kluft zwischen Tieren – beweglich, empfind­sam, mit einem Hirn begabt – und den bewusst­los „vegetierenden“ Gewächsen schließt sich zunehmend.

Pflanzen, so glaubt eine Reihe von Forschern heute, sind nicht nur intelligent wie Tiere auch. Sie haben wie diese ein Interesse an ihrer ei­genen Existenz, die sie mit allen Mitteln bewahren wollen. Sie haben einen Standpunkt, eine Perspektive und reagieren unmittelbar auf das, was ihnen zustößt. Was Biologen über die Fähigkeiten der Gewächse erfahren, hilft uns somit auch, unsere Vorstellung vom Leben zu revidieren. Und das bleibt nicht ohne Auswir­kungen auf unser Bild von uns selbst.

„Die Biologie steht vor einer kopernikani­schen Wende“, prophezeit der italienische Bo­taniker Stefano Mancuso, der an der Universität Florenz das „Labor für Neurobiologie der Pflan­zen“ betreibt. Der Astronom Nikolaus Koper­nikus entdeckte im ausgehenden Mittelalter, dass die Erde um die Sonne kreist, und löste damit die Vorstellung des griechischen Gelehr­ten Ptolemäus ab, die Erde stehe im Mittel­punkt des Universums. Auf ähnliche Weise wird derzeit die lang­jährige Annahme vieler Biologen, Pflanzen seien im Grunde besinnungslose Maschinen, durch neue Entdeckungen ihrer Erfahrungs­- und Empfindungsfähigkeit revidiert. Mancuso ist überzeugt: Gewächse seien nicht nur im Voll­besitz aller fünf Sinne, die wir Menschen haben, sie hätten darüber noch eine ganze Menge mehr, von denen wir bisher nicht einmal zu träumen wagten. Für Magnetfelder zum Bei-spiel oder für Chemikalien.

„Heute wissen wir: Pflanzen sprechen miteinander, erkennen ihre Verwandten und zeigen ganz unterschiedliche, individuelle Charaktere“, sagt Mancuso. Der Mittfünfziger sitzt in seinem Labor vor einer Pinnwand, die mit Ausdrucken von Schönheiten aus dem botanischen Reich zugehängt ist: Orchideenblüten, alte Bäume, Landschaften. Daneben breitet sich eine Weltkarte aus.Der Forscher – schütterer grauer Vollbart, flinke Augen hinter modischer Brille – könnte Geisteswissenschaftler sein anstatt Laborpraktiker. Und tatsächlich geht es Mancuso nicht nur um Routineforschung, sondern um die großen ungelösten Fragen: „Ich beschäftige mich mit Pflanzen, weil ich wissen will, was Leben ist. Das ist nämlich überhaupt noch nicht klar. Bloß geben die meisten Forscher das nicht zu.“ Für Mancuso verhindert gerade in der Wissenschaft ein allzu menschenfixierter Standpunkt, dass wir andere Wesen so wahrnehmen, wie sie sind. Wir können ihre Fähigkeiten nicht erkennen – und erst recht nicht anerkennen.

Sehen, hören, tasten, riechen, schmecken – ist es wirklich möglich, dass die starren Gewächse in Wahrheit nicht nur in manchen Körperpartien so beweglich sind wie kleine Tiere, sondern dass sie eine ebenso differenzierte Wahrnehmung der Welt haben? Um seinem Zuhörer auf die Sprünge zu helfen, erinnert Mancuso daran, dass es wenig nutzt, wenn wir unsere eigenen Fähigkeiten eins zu eins mit denen der Pflanzen vergleichen. Wir müssen vielmehr den Standpunkt der Gewächse einnehmen – sozusagen die Welt aus den Augen sesshafter Lebewesen betrachten, die Licht essen.

Mit den Augen fängt es an. Pflanzen sind blind, oder? Denn sie besitzen im Gegensatz zu fast allen Tiere keine Sehzellen. Mancuso hilft sanft nach: Wenn wir Sehen als die Fähigkeit beschreiben, auf Lichtunterschiede sinnvoll zu reagieren, dann können Pflanzen nicht nur sehen, sondern sind geradezu Meisterinnen darin. Denn Licht ist ihr eigentliches Lebensmittel. Um zu gedeihen, müssen Pflanzen das Licht erfassen und ihm optimal entgegenwachsen. „Wir können uns vorstellen, dass im Grunde der ganze Körper der Pflanze mit Augen bedeckt ist“, sagt Mancuso. Oder vielmehr: Die Pflanze ist ein einziges Auge. Nicht nur die Blätter, alle Oberflächen des Pflanzenkörpers enthalten Rezeptoren für Helligkeit – damit dort im Notfall schnell Grün austreiben kann.

Pflanzen haben elf verschiedene Lichtsensoren, und damit sieben mehr als der Mensch in seinen Augen. Der US-Botaniker David Chamovitz fand in den vergangenen Jahren heraus, dass gleiche Gene in Pflanzen, Tieren und Menschen für die Lichtregulation zuständig sind. Chamovitz ist sich sicher: „Pflanzen sehen Sie, wenn Sie sich ihnen nähern und wenn Sie sich über sie beugen.“

Das mag abenteuerlich klingen. Die Zimmerpflanze erkennt ihre Pflegerin, die sie liebevoll gießt, wohl auch nicht als Silhouette vor dem Hintergrund der Umgebung. „Pflanzen übersetzen Lichtsignale in einen Wachstumsimpuls“, sagt Chamovitz. Die Pflanzenfreundin erscheint dem Objekt ihrer Zuwendung als drohende Beschattung, von der die Sprosse besser wegstreben. Das Basilikum am Fenster, die in einen Kasten gesperrte keimende Kartoffel fotografieren nicht die Umgebung, sondern verwandeln sich selbst zum Abbild des Lichts, indem sie sich zu ihm hinrecken und seine Energie in sich aufnehmen.

Und dieses Recken dauert seine Weile. In dieser Zeit haben wir schnelllebigen Tiere uns längst anderen Gegenständen zugewendet. Ohne den Faktor der so viel langsameren Eigenzeit einzurechnen, können wir uns nur schwer vorstellen, wie aktiv Pflanzen sind. Zu unterschiedlich ist die Wahrnehmungsdauer aus der pflanzlichen und aus der tierischen Perspektive. Wenn wir aber die Langsamkeit der Pflanzen in unsere eigene Hektik übersetzen, wird vieles klarer. Wir müssen quasi lernen, im Zeitraffer zu denken.

Das hat Mancuso getan. Der Italiener filmte geduldig, wie Bohnenranken nach einer Stange angeln, an der sie sich emporwinden können. Bislang glaubte man, die Begegnung einer Pflanzenranke sei purer Zufall, die Pflanze griffe, was sie finde. Aber die Videos zeigen: Offenbar weiß die Bohne, was sie tut – und wohin sie sich wen­ den muss. Im Zeitrafferblick der Kamera wächst sie auf die Stange zu, als wäre sie eine Hand, die zielstrebig nach einem Halt langt.

Neben dem Tastsinn, der ermöglicht, dass sich ihre Sprossspitzen – nach pflanzlichen Maßstäben blitzschnell – um die Stütze wickeln, muss die Bohne also noch weitere sen­sorische Fähigkeiten besitzen. Arbeitet sie mit Echolot? Riecht sie das Metall des Stabes? Man­cuso ist sich nicht sicher. Aber er ist davon über­ zeugt, dass der Spross nicht zufällig agiert, son­dern mit festem Ziel. Wer die Filme sieht, kann sich diesem Gefühl schwer entziehen.

Manuscos Kollege Chamovitz bestätigt, mit wie viel Eigensinn Rankengewächse ihren Lieblingsplatz suchen. Er hat sich damit beschäftigt, wie eine parasitische amerikanische Weinrebe gezielt andere Pflan­zen ansteuert, um ihre Saugstachel in deren Gewebe zu versenken. Gern nimmt die Weinre­be etwa die Tomate als Nährstoffspender – ver­schmäht aber, wenn es geht, Weizenhalme.

Inzwischen steht fest, dass die schmarotze­rische Rankpflanze die Unterschiede zwischen einzelnen Arten riecht. Sie reagiert intensiv auf „Eau de Tomate“, sagt Chamovitz, weniger aber auf „Eau de Weizen“. Aber kann man hier wirk­lich von „riechen“ sprechen? Braucht es dafür nicht eine Nase? „Wenn eine Pflanze ein che­misches Signal in der Luft in ein bestimm­tes Verhalten umsetzt, dann heißt so etwas Geruchssinn“, erklärt Chamovitz dazu knapp. Während Tiere sich vornehmlich an Wellen orientieren – einige Energieoszillationen werden von ihnen als Licht wahrgenommen, andere als Wärme, Luftschwingungen als Schall –, vermit­telt sich den Pflanzen die Wirklichkeit als Duft in Form von Gasteilchen, welche die Gewächse aussenden und empfangen. „Forscher kennen bei 900 Pflanzenfamilien rund 2.000 Duftstoff­vokabeln“, schätzt die Schweizer Genetikerin und Pflanzenforscherin Florianne Koechlin. Die­ses „Zellgeflüster“, wie es Koechlin nennt, wird von anderen Gewächsen, aber auch von Insekten und Wirbeltieren aufgegriffen.

Pflanzengase dienen vielfach dazu, sich selber vor dem Angriff gefräßiger Insekten zu schüt­zen; gleichzeitig werden Artgenossen vorbereitet. So produziert die Limabohne einen Duftstoff, wenn sie von Milben angegriffen wird. Zusätz­lich sondert die Pflanze am Grund ihrer Blätter süßen Nektar ab. Damit werden Ameisen ange­lockt, die sich über die Milben hermachen. Der Gasduft bringt andere Pflanzen in der Nähe dazu, es ihr gleichzutun und zur Abwehr der Be­drohung die Nektardrüsen zu öffnen.

Aber damit nicht genug: Durch eine nachfol­gende Duftwelle zieht die Bohnenpflanze Raub­milben an, die ebenfalls die parasitischen Mil­ben fressen. Welcher Art die Peiniger sind, die an ihr saugen, schmecke die Pflanze wohl am Speichel der Schmarotzer, der in ihr Gewebe eindringt, sagt Koechlin. Denn wenn nicht eine Milbe, sondern eine Raupe an seinem Grün nagt, sendet der Schössling ein anderes Gas aus, das Schlupfwespen anlockt, die auf Schmetter­lingslarven spezialisiert sind. „Wie viele Tiere können derart hoch entwickelte Abwehrstrate­gien einsetzen?“, fragt Mancuso angesichts die­ser Raffinesse.

Die Duftstoffe der Pflanzen sind also oft Signalträger und Wirkstoffe in einem, deren Effekte sich nicht auf das Pflanzenreich beschränken. Tabakpflanzen schlagen mittels Nikotin Alarm und setzen den für Tiere giftigen Stoff zugleich zur Schädlingsabwehr ein. Wenn grüne Gewächse von Viren oder Bakterien angegriffen werden, entströmt ihnen das Gas Methylsalicylat, das dem Hauptbestandteil des Entzündungshemmers und Schmerzmittels Aspirin nah verwandt ist. Der Stoff tötet die Eindringlinge im Blattgewebe ab – zugleich werden andere Kräuter in der Umgebung gewarnt.

Ein anderes universelles Pflanzengas wurde früher beim Menschen erfolgreich als Narkosemittel verwendet, erzählt František Baluška, und es galt als Wundermittel fast ohne Nebenwirkungen: Ethylen. Ethylen hatte nur ein Problem: es ist hochexplosiv. Nach ein paar in Flammen aufgegangenen Operationssälen stoppten die Anästhesisten seinen Einsatz. Die Pflanzenwelt setzt den Wirkstoff nach wie vor ein. Jüngst stellten Forscher fest, dass verletzten Mimosen Ethylen entströmt – und zugleich auf diese selbst eine betäubende Wirkung hat.

„Es scheint fast, als würde sich eine Pflanze selbst in Narkose versetzen können, wenn sie verletzt wird“, meint Baluška. Ethylen war bislang vor allem als ein Duftstoff bekannt, der die Fruchtreife koordiniert. Reife Früchte stoßen die Chemikalie aus und beschleunigen dadurch den Reifeprozess von anderem Obst in der Nähe. Darum wird eine harte Avocado schnell weich, wenn man sie mit einer reifen Banane in eine Papiertüte packt.

Aber kann das auch heißen, dass die Früchte, deren Fleisch ja immerhin bis zuletzt aus lebenden Zellen besteht, sich selbst betäuben, bevor sie unvermeidlich gefressen werden? Ist der Duft von frisch gemähtem Heu, das Aroma reifer Melonen für die betroffenen Gewächse in Wahrheit ein Anästhetikum, das ihnen das Sterben erleichtert, wie einige Forscher meinen? Manche Botanikprofessoren schütteln angesichts solcher Spekulationen den Kopf. Sie schimpfen über Kollegen, die sich mit den Wahrnehmungsfähigkeiten der Pflanzen beschäftigen. Zu esoterisch, zu spekulativ. Zu wenig wissenschaftlich. Am meisten nehmen es die oft traditionell denkenden Botaniker ihren Zunftgenossen übel, wenn diese neuerdings ihr Forschungsgebiet als „Pflanzenneurobiologie“ bezeichnen.

Neurobiologie - das Wort sei schlicht falsch, sagen sie. Denn nur Tiere haben Neurone, also Nerven. Und, so das herrschende Dogma, ohne Nerven kann es keine Intelligenz geben, keine Erfahrung, kein Lernen, keine Individualität, kein Schmerzempfinden: „No brain, no pain“, fasst diese Sicht etwa der US-Botaniker Lincoln Taiz von der University of California in Santa Cruz zusammen. Für „kompletten Unsinn“ hält David Robinson, der am Heidelberger Institut für Pflanzenwissenschaften forscht, die Hypothese seiner Kollegen, dass Pflanzen zu Erfahrungen fähig sind, für die bei Tieren Nerven gebraucht werden. Er ist überzeugt: „Diese dämliche Idee stirbt bald aus.“ Und Elmar Hartmann, Botaniker an der Freien Universität Berlin, glaubt, dass mit den Fragen, die Forscher auf der Suche nach der pflanzlichen Intelligenz und Erfahrungsfähigkeit stellen, der Esoterik weit die Tür geöffnet werde.

„Gerade deutsche Professoren beharren erbittert auf dem Dogma, dass eine Pflanze eigentlich eine Maschine sei“, engegnet Mancuso. „Sie leisten den größten Widerstand gegen eine neue Einschätzung der Gewächse.“ Pflanzen besitzen zwar keine Synapsen, die etwa eine Verletzung an eine zentrale Instanz wie das Gehirn weitermelden würden. Ihre Kommunikation funktioniert aber ebenso gut, sagt er, wenn der Signalstoff einen ganzen Baum einhüllt und durch den Wald driftet. Nur sei das Prinzip der Signalübertragung ein an­deres als bei Tieren. Oft besteht die Fauna aus Kolonien der gleichen Pflanze, bei denen es gar nicht eindeutig ist, von welchem Wurzelspross welcher Stängel emporwächst. Die Gasdusche informiert dabei entfernte Teile des eigenen Körpers ebenso über eine mögliche Gefahr wie auch Ableger, die etwas weiter weg wachsen, sowie Artgenossen in der Umgebung.

Versuche zeigen, dass sich Gewächse auch ohne Neuronenbahnen an Vergangenes erin­nern und sogar lernen können. Wuschelt ein Laborforscher etwa einer jungen Maispflanze regelmäßig mit seinen Fingern über die sen­sible Sprossspitze, so bleibt das Gewächs klei­ner als üblich, wird dafür aber sehr stämmig, berichtet Florianne Koechlin. Und die Botani­kerin Monica Gagliano von der University of Western Australia hat festgestellt, dass sich junge Mimosenpflänzchen rasch an ruckartige Bewegungen gewöhnen, wenn die Gewächse feststellen, dass das Geschüttel keine schlimmen Folgen hat.

Gewöhnlich schließt eine Mimose, der ein Stoß versetzt wird, blitzartig ihre feinen Blattrispen. Gaglianos Schöss­linge aber gewöhnten sich rasch an wiederholte Schüttelbewegungen – zogen sich jedoch sofort zusammen, sobald ihre Blätter auf andere Weise berührt wurden. „Diese Form des Lernens fin­den wir sonst nur bei Tieren“, meint die Bota­nikerin. Auf dem Kongress im kanadischen Vancouver, auf dem Gagliano im vergangenen Jahr ihre Arbeiten vorstellte, hagelte es Skepsis.

Widerstand hatten schon Charles Darwin und sein Sohn Francis im 19. Jahrhundert er­fahren. Bereits damals regten sie an, den Wur­zelspitzen der Pflanze intelligentes Verhalten zuzuschreiben, doch der Vorstoß endete im Sperrfeuer des Botanikers Julius von Sachs, der damals an der Universität Würzburg forschte. Sachs bezeichnete Darwin, der gerade die epochale Evolutionstheorie entwickelt hatte, als „Landhausgelehrten“, als einen Dilettanten, der einem ausgebildeten Pflanzenforscher nicht das Wasser reichen könne.

Heute beklagt František Baluška, dass in der Botanik wieder ein Klima vorherrsche, das sich neuem Denken widersetze. „Viele Wissen­schaftler stellen heute keine Theorien mehr auf, sondern halten sich sklavisch an Dogmen aus der Vergangenheit“, meint er. Gute Wissen­schaft funktioniere aber gerade nicht nach die­sem Prinzip. Neue Ergebnisse dürften nicht deshalb aussortiert werden, weil sie alte Glaubenssätze erschüttern. Nur wenn For­scher sich auf das einließen, was nicht ins Bild passe, werde Erkenntnisfortschritt überhaupt möglich.

Das heißt konkret: Wenn Pflanzen zeigen, dass Lernen auch ohne Nerven denkbar ist, wenn Erinnerungen nicht nur im Hirn, sondern auch im Körper gespeichert werden können, dann müssen Biologen vielleicht ihr Verständ­nis von dem revidieren, was Leben heißt. Dann könnte schlussendlich jede Zelle zur Erfahrung fähig sein – und auf eine gewisse Weise auch „intelligent“. Denn was heißt das überhaupt, Intelligenz? Muss intelligentes Handeln so definiert sein, dass ein Gehirn alle Aktionen zentral plant? Für Mancuso bedeutet Intelligenz einfach: fähig zu sein, die Probleme der eigenen Existenz kon­struktiv zu lösen. Der US­-amerikanische Philo­soph Daniel Dennett gibt Mancuso in diesem Punkt Schützenhilfe: Dennett sagt, dass Geist und Bewusstsein prinzipiell eine Folge der Evo­lution sind. Die Evolution kennt aber nie nur eine Lösung. Insofern sei eine Sicht, die Intelligenz, Lernen und Erinnerung an die Existenz von Neuronen und Gehirnen kette, hoffnungslos „zerebrozentrisch“, ein „überholter Mythos“.

Sogar das hoch entwickelte Gehirn des Menschen selbst ist nicht hierarchisch aufgebaut. Das wissen Forscher längst. Jahrhunderte hatten sie nach einem Zentrum gesucht, nach einer Steuerungsinstanz, einem „Homunculus“, der in der Befehlszentrale das Kommando hat. Heute ist klar, dass das Denkorgan der Tiere – das der Menschen eingeschlossen – seinen Zusammenhalt aus einem chaotischen Netzwerk vielfach miteinander verbundener Nervengruppen hervorbringt. Diese bilden Zentren und Zusammenschlüsse – und sind doch kreuz und quer untereinander verkettet.

Ironischerweise gibt es kaum etwas, das der netzhaften Verwobenheit unserer Hirnnerven stärker ähnelt als das Wurzel- und Pilzgeflecht im Waldboden. Auch hier gehen von bestimmten Zentren – den Wurzelzonen der Pflanzen – weiträumige Verbindungen aus. Nicht nur zwischen Individuen der gleichen Baumart, sondern zwischen unterschiedlichen Pflanzen, und vor allem zwischen Pflanzen und den feinen Pilzfäden. Ohne diese innige Verbindung zu Pilzen, welche die Pflanzenwurzeln mit Mineralien versorgen und dafür Zuckersaft erhalten, glaubt Baluška, hätten die grünen Gewächse nie vermocht, das Land zu besiedeln.

Die kanadische Forstökologin Suzanne Simard untersucht die Beziehungen innerhalb dieses Netzes, das buchstäblich jeden Hohlraum des Bodens füllt. Sie injizierte eine schwach radioaktive Flüssigkeit in Baumwurzeln und maß, wie sich dieser Markierungsstoff verteilte. Als sie den Weg des Stoffes verfolgte, fand sie heraus, dass auf einer 30 Quadratmeter großen Waldfläche jeder Baum mit dem „Wood Wide Web“ der Wurzel- und Pilzfäden verbunden war. In diesem botanischen Internet ernähren ältere Exemplare junge Schösslinge, bis diese groß genug sind, selbst genug Energie aus dem eingestrahlten Sonnenlicht zu gewinnen. Und das nicht nur innerhalb der eigenen Art: Als der Winter begann, tauschten sogar Kiefern und Birken untereinander Nährstoffe aus.

Simard glaubt, dass der Nutzen dieses gegenseitigen Abgebens dem Waldökosystem insgesamt eine größere Stabilität und den einzelnen Individuen mehr Widerstandskraft verleiht. Vielleicht behält Charles Darwin, der für die Aufklärung des „Ursprungs der Arten“ verehrt, für seine Arbeiten zur Botanik aber noch von einigen belächelt wird, also auch hier auf lange Sicht recht. Für Darwin war jede einzelne Wurzelspitze in ihrer Erkenntnisfähigkeit mit dem Hirn eines Wurms zu vergleichen.

Damit sind wir wieder im Boden unterhalb des Baumes angelangt. Alles ist in Bewegung. Jedes der Milliarden Wurzelwürmchen gräbt sich durch die Sandkörner, verbindet sich mit Pilzfäden, umspinnt seinesgleichen, teilt seine Nahrung und nimmt dabei sich selbst und seine Umgebung wahr. Alles ist voller lebendiger Erfahrung.

Vielleicht müsste man heute sogar noch ein Stückchen über Darwin hinausgehen und mit der Schweizer Genetikerin Florianne Koechlin sagen: Der von Wurzeln durchzogene Boden ist eine Art Gehirn. Eines, das sich nicht abgrenzt, sondern eines, das „denkt“, indem es ständig neue Verbindungen schafft und verstärkt. Vermutlich gäbe es von diesem Gehirn für uns Menschen noch eine Menge zu lernen.

(NG, Heft 8 / 2015, Seite(n) 88 bis 111)

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