Gletscherschmelze - Wenn alles schmilzt
Gletscher schrumpfen oder wachsen eigentlich in Jahrtausenden. Heute schwinden sie vor unseren Augen.
„Die Fotos zeigen, dass Gletscher viel schneller auseinanderbrechen und abtauen als je gedacht. Die Menschen müssen sehen, dass der Klimawandel eine Realität ist.“ JAMES BALOG
Gletscher sind wilde Bestien. Früher, in vorindustrieller Zeit, waren sie gefürchtet wie Wölfe. Ende des 19. Jahrhunderts waren sie nur noch Touristenattraktionen. In der Schweiz konnte man sich in den Rhone-Gletscher vorwagen; dazu wurde jeden Sommer neben dem Hotel Belvédère ein Tunnel gegraben. Gleichzeitig schufen die Menschen eine Welt, in der vielleicht eines Tages kein Platz mehr für Gletscher ist. Vorerst aber bleiben sie Bestien.
Sie atmen. Oben häuft sich Schnee an und wird zu Eis; in der Nähe der Gletscherzunge schmilzt es. «Der Gletscher atmet im Winter ein und im Sommer aus», sagt Matthias Huss, Gletscherforscher an der Schweizer Universität Freiburg. Ein Viertel des Wassers, das im August die Rhone hinunterfließt, stammt aus Gletschern.
Sie bewegen sich. Eis, das ausreichend stark nach unten drückt, kann fließen. «Wenn es sich nicht bewegt, ist es kein Gletscher, sondern liegendes Eis», sagt Dan Fagre, der seit 20 Jahren als Klimaforscher und Ökologe im Glacier National Park in Montana arbeitet. In dem Park gibt es 25 aktive Gletscher, vor hundert Jahren waren es noch 150. Viele sind verschwunden, bevor man sie auf Landkarten einzeichnen konnte. Zurückgeblieben sind nur Moränen – Geröllhaufen, die sie vor sich herschoben, als sie bergab flossen. Damals, als sie noch lebten.
Sie herrsch(t)en. Vor 20 000 Jahren war die Schweiz ein Eismeer, aus dem nur die Alpen als windumtoste Inseln herausragten. Im 19. Jahrhundert, am Ende der sogenannten kleinen Eiszeit, schmolzen die Überreste dieser Eiszeit ein wenig. Eine Daguerreotypie von 1849 zeigt, dass sich die Zunge des Rhone-Gletschers ungefähr 500 Höhenmeter weiter bergabwärts erstreckte als heute. Er stürzte einen steilen Abhang hinunter, seine eisigen Wände von Licht durchtränkt, und kroch über den Talboden wie eine riesige gefrorene Amöbe. An den Moränen erkannten Schweizer Wissenschaftler, dass es einst große Eiszeiten gab. So erfuhren wir, dass sich das globale Klima tiefgreifend wandeln kann. Wenn wir es nicht selber verändern würden, sondern die Natur dies bewirkte, stünde uns in etwa 10 000 bis 50 000 Jahren wieder eine Eiszeit bevor. Doch wenn wir alle Kohle-, Öl- und Gasvorräte verbrennen, die noch unter der Erde liegen, werden wir auch den letzten Flecken Eis auf der Erde zum Schmelzen bringen. Die Gletscher erinnern uns daran: Wir stehen an einem Scheideweg.
Sie kämpfen. Während sich die Welt erwärmt, suchen die Gletscher nach Stetigkeit – eine Höhe und eine Masse, bei denen der oben hinzukommende Schnee das unten abfließende Schmelzwasser ausgleicht. «Sie bemühen sich um Anpassung, aber einfach ist das nicht», sagt Huss. Das Wetter ist ortsbezogen, jeder kämpft für sich allein. Einige Gletscher rücken tatsächlich noch vor – aber nur wenige, und keiner davon liegt in den Alpen. Dort ist im vergangenen Jahrhundert die Hälfte des Eises geschmolzen – genug, um alle Seen der Schweiz zu füllen. Und 80 bis 90 Prozent der Gletscher, die es heute noch gibt, werden bis 2100 verschwunden sein.
Der Rhone-Gletscher hat sich auf den Berg zurückgezogen. Er endet heute oberhalb des Hotels Belvédère, und im Sommer kann man immer noch in ihn hineinwandern. Im Winter ist er allein: eine weiße Schlange, gespenstisch still. Eine atmende Bestie. Der Glacier Park wird auch ohne Gletscher noch wunderschön sein. Dasselbe gilt nach Huss’ Ansicht für die Schweiz. Aber er sagt: «Zu sehen, wie die Gletscher allmählich verschwinden, das tut einfach weh.»
(NG, Heft 10 / 2013, Seite(n) 104 bis 113)