„Siedender Sand“ auf dem Mars

Ein neu entdeckter geologischer Prozess könnte erklären, warum sich durch Wasser an den kargen Marshängen vorübergehend Furchen bilden.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:21 MEZ
Marshänge
Aufnahmen eines NASA-Satelliten: Im Palikir-Krater auf dem Mars erscheinen jahreszeitabhängig Formationen, die als Abhanglinien bezeichnet werden.
Foto von NASA, JPL, University of Arizona

Seit inzwischen fünf Jahren starren Wissenschaftler gebannt auf die Marsoberfläche. Sie sind fasziniert von deutlich sichtbaren Furchen, die vermeintlich durch Salzwasserströme auf die Oberfläche gezeichnet werden.

Eine neue Studie zeigt jedoch, dass diese und ähnliche Formationen durch einen Prozess entstehen könnten, der auf der Erde unbekannt ist: durch das Sieden von Schmelzwasser, bei dem Bodenpartikel weggeschleudert werden wie platzende Popcorn-Körner.

Der unerwartete geologische Prozess, dessen Beschreibung am 2. Mai in Nature Geoscience erschien, wurde im Labor während eines simulierten Marstages nachgestellt. Die Entdeckung könnte zur Erklärung der „wiederkehrenden Abhanglinien“ (Recurring Slope Lineae, RSL) auf dem Mars beitragen, rätselhafter Furchen, über die sich Planetenforscher seit deren erster Entdeckung im Jahr 2011 den Kopf zerbrechen.

Die dunkle Farbe der Furchen, ihr schrittweises Wachstum und Salzablagerungen deuten darauf hin, dass auf dem heutigen Mars Brackwasser fließt, das prinzipiell ein Habitat für anspruchslose Lebewesen auf dem Mars sein könnte.

Wie genau die Furchen entstehen, bleibt jedoch ein Mysterium, vor allem weil die Oberfläche des Planeten keine geeignete Umgebung für flüssiges Wasser ist. Die Atmosphäre des Mars ist extrem trocken und um mehr als den Faktor 50 dünner als die Luft auf dem Gipfel des Mount Everest.

In einer derart dünnen Atmosphäre kocht Wasser bereits bei Temperaturen um Null Grad Celsius, erklärt Studienleiterin Marion Massé von der Universität Nantes in Frankreich.

„Was uns auf dem Mars fehlt, sind Videokameras zur Beobachtung dieser Formationen. Sie könnten uns unendlich wertvolle Informationen liefern“, ergänzt Susan Conway, Co-Autorin der Studie von der Universität Nantes. „Uns fehlen Informationen darüber, welche Vorgänge auf kurzen Zeitskalen stattfinden. Wie bilden sich die Formationen? Wie wachsen sie?“

UNTER (NIEDRIGEM) DRUCK

Um nachzustellen, wie die Furchen durch Wasser gebildet werden, das von einem Marshang rinnt, setzten Massé, Conway und Kollegen künstliche Sandhügel in die große Marskammer der Open University in England. Die Marskammer ist eine Dekompressionskammer aus Stahl, die den bekannten Anlagen für Sporttaucher ähnelt.

Bei erdähnlichen Drücken und Temperaturen um 20 °C sickerte Schmelzwasser eines Eiswürfels auf eine Rampe, die mit einer dünnen Schicht Sandboden bedeckt war. Dabei wurde der Sand dunkel gefärbt, aber nicht bewegt.

Als das Team den gleichen Vorgang bei marstypischem Luftdruck wiederholte, geschah etwas Unerwartetes: Das Wasser schmolz und versickerte im Boden. Danach begann es zu sieden. Und bei diesem Siedevorgang wurde Sand den Abhang heruntergeschleudert, so dass sich an der Vorderkante der Wasserspur ein kleiner Haufen bildete.

Während das Wasser weiter siedete, wurde der Haufen instabil und rutschte letztendlich den Abhang hinunter. Dabei bildete sich ein kleiner Kamm. Weiteres Wasser floss entlang des Kamms den Abhang hinunter und führte zur Bildung weiterer Häufchen und Kämme. Durch diesen Prozess bildeten sich letztendlich ungefähr 30 Zentimeter lange komplexe Adern mit Abzweigungen, die den bekannten Abhanglinien bemerkenswert ähnlich sehen.

Den Forschern war zwar bekannt, dass Wasser bei marstypischem Luftdruck kocht, die Auswirkungen auf die Sandbewegungen waren jedoch eine Überraschung. „Wir hatten so etwas nicht erwartet“, berichtet Conway. „Alle drängten sich um die Kammern und riefen ,Wow, ist das cool! Hoffentlich ist es nicht nur ein Zufall!ʻ“

DAS LANG ERSEHNTE WASSER?

Massé und Conway betonen, dass der neu entdeckte Prozess, der auch mit Brackwasser funktioniert, einen Hinweis darauf liefert, dass geringe Mengen Wasser große Mengen Sand bewegen können. Dies unterstützt die Hypothese, dass flüssiges Wasser die wiederkehrenden Abhanglinien auf dem Mars formt, wenn auch auf andere Weise als ursprünglich erwartet.

Externe Experten sind jedoch weiterhin skeptisch, vor allem, weil das Experiment unter vereinfachten Bedingungen stattfand. Jennifer Hanley vom Lowell Observatory, eine Expertin für das Verhalten von Eis auf anderen Himmelskörpern, weist darauf hin, dass das Experiment ausschließlich bei einer optimalen Temperatur für den Marssommer durchgeführt wurde. Wiederkehrende Abhanglinien bilden sich aber auch während des Marsfrühlings, wenn die Oberfläche wesentlich kälter ist.

Eine große Hürde zur endgültigen Lösung des Mysteriums besteht darin, dass wir über keine sichere Möglichkeit verfügen, die Abhanglinien aus der Nähe zu betrachten. Selbst der Marserkundungssatellit der NASA (Mars Reconnaissance Orbiter, MRO), der mit der hochauflösendsten Kamera ausgestattet ist, die derzeit um den Roten Planeten kreist, liefert keine hinreichend scharfen Bilder.

Und mit einem Rover einen näheren Blick zu wagen, kommt nicht in Frage. Die NASA hält ihre Roboter ganz bewusst von den wiederkehrenden Abhanglinien fern, um auch die geringste Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass diese Maschinen den Planeten mit Lebensformen von der Erde kontaminieren. Denn dies würde alle Beweise für Leben auf dem Mars unmöglich machen und könnte sogar zu einer Invasion marsfremden mikrobiologischen Lebens führen.

„Wir kennen Organismen, die in diesen extrem salzigen Umgebungen überleben“, sagt Hanley. „Natürlich ist der Gedanke verführerisch, aber wie könnten wir solche Phänomene untersuchen ohne sie selbst zu beeinflussen oder womöglich sogar Lebewesen einzuschleppen?“

„Ich glaube dennoch, dass es sinnvoll ist, Labordaten zu nutzen, um Dinge zu verstehen, die uns Rätsel aufgeben“, ergänzt sie. „Es ist definitiv ein Aspekt, den wir berücksichtigen müssen, wenn wir diese Rinnsale verstehen wollen.“

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Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 2. Mai 2016

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