Antimaterie-Überschuss der Erde durch Dunkle Materie?

Neue Beobachtungen heizen eine Debatte über den Überschuss von Antiteilchen in der Erdatmosphäre auf.

Von Nadia Drake
Veröffentlicht am 20. Nov. 2017, 15:42 MEZ
Diese 300 Wassertanks des High Altitude Water Cherenkov Gamma-Ray Observatory in Mexiko helfen Astronomen dabei, den ...
Diese 300 Wassertanks des High Altitude Water Cherenkov Gamma-Ray Observatory in Mexiko helfen Astronomen dabei, den Ursprung der Positronen zu bestimmen, die auf die Erde treffen.
Foto von Jordan A. Goodman

Ein kosmischer Motor schleudert seltsame Partikel auf die Erde, und neue Beobachtungen, die in „Science“ veröffentlicht wurden, verkomplizieren die Jagd nach dem Täter.

2008 entdeckte das Weltraum-Forschungsmodul PAMELA einen Überschuss an Positronen in der Erdatmosphäre. Diese Teilchen sind sogenannte Antiteilchen, aus denen Antimaterie besteht. Wenn ein Antimaterie-Positron auf sein Gegenstück trifft, können sich die beiden gegenseitig in einer kleinen Reaktion auslöschen, bei der Energie frei wird. Zu dieser Energie zählen oft auch Gammastrahlen, die Wissenschaftler entdecken können.

Die Suche nach der Quelle dieses seltsamen Überflusses an Positronen ist spannend, da sie Wissenschaftlern dabei hilft, das hochenergetischste Phänomen in unserer Ecke des Universums besser zu verstehen. Das wiederum könnte dazu beitragen, einige der großen Geheimnisse der Physik zu lüften.

Seit Langem vermuten Wissenschaftler, dass diese Teilchen aus nahegelegenen Pulsaren stammen, den schnell rotierenden Überresten ehemals großer Sterne. Laut dem Team hinter der neuen Studie deuten die Beweise aber in eine ganze andere Richtung als die der beiden Pulsare in weniger als 1.000 Lichtjahren Entfernung.

Stattdessen, so argumentiert das Team, könnte etwas deutlich Exotischeres am Werk sein, zum Beispiel die Interaktionen einer mysteriösen Substanz, die als Dunkle Materie bekannt ist.

„Als ich mit dieser Arbeit begann, habe ich wirklich geglaubt, es wären Pulsare“, sagt der Studienautor Rubén López Coto vom Max-Planck-Institut für Kernphysik. „Aber diese beiden Pulsare können nicht genügend Positronen abgeben, um diesen Überschuss an Positronen zu erklären.“

Dennoch löste dieser neue Vorschlag bereits eine Kontroverse unter Astronomen und Physikern aus, von denen einige noch nicht bereit sind, die Pulsare als Erklärung abzuschreiben. Obwohl die Messungen des Teams verlässlich sind, sei ihre Interpretation der Daten problematisch, sagt Dan Hooper vom Fermi National Accelerator Laboratory.

„Ich bin so überzeugt wie eh und je, dass diese Pulsare signifikant zum lokalen Positronenüberschuss beitragen und sogar der dominante Faktor sein könnten“, sagt Hooper.

ANITMATERIE-MOTOREN

Positronen sind die Antiteilchen zu Elektronen, die ein grundlegender Bestandteil der gewöhnlichen Materie sind, mit der wir interagieren. In der Natur sehen wir hier auf der Erde nicht besonders viele Positronen. Aber im Kosmos können tote und sterbende Sterne Elektronen und Positronen in Paaren erzeugen. Manchmal werden diese Teilchen durch das All geschleudert und von Magnetfeldern umhergewirbelt, bis sie auf irgendetwas treffen.

Pulsare fungieren beispielsweise als rotierende Teilchenbeschleuniger. Mitunter drehen sie sich mehr als 700 Mal pro Sekunde um sich selbst und schleudern Teilchen ineinander – darunter auch Elektronen und Positronen, die in dem Wirbel der Pulsare gefangen sind.

Wenn solche Positronen genug Energie und aus eine ausreichende Geschwindigkeit haben, können sie dem Wirbel des Pulsars entkommen und durch das All reisen. Manchmal landen sie dann auf der Erde – das zumindest ist die aktuell vorherrschende Meinung dazu, woher der Positronenüberschuss stammt. Die Positronen stoßen auch oft mit Photonen zusammen und erzeugen dann Gammastrahlen, die Wissenschaftler auf der Erde leicht entdecken können.

Der neue Erklärungsansatz ist den Beobachtungen des High Altitude Water Cherenkov Gamma-Ray Observatory zu verdanken. Das Observatorium, das aus 300 großen Wassertanks besteht, befindet sich zwischen zwei Vulkanen im mexikanischen Parque Nacional Pico de Orizaba. Wenn besonders hochenergetische Teilchen aus dem Weltraum auf die Wassertanks treffen, erzeugen sie kurze Lichtblitze, die eine charakteristische Signatur haben und auf ihren Ursprung verweisen.

Seit 2015 sammelt das HAWC, wie das Observatorium auch genannt wird, Daten zu diesen Teilchen und untersucht ihren kosmischen Ursprung. Siebzehn Monate lang untersuchte es zudem hochenergetische Gammastrahlen, die von zwei nahen Pulsaren mit der Bezeichnung Geminga und PSR B0656+14 (oder kurz: Monogem) in Richtung Erde geschleudert wurden.

Durch eine Rückverfolgung ausgehend von den Gammastrahlenbeobachtungen konnte das HAWC-Team errechnen, wie schnell sich die Teilchen im Umkreis von Geminga und Monogem bewegten. Wie sich herausstellte, bewegten sich die Positronen der Pulsare nicht schnell genug, um es bis zur Erde zu schaffen, sagte López Coto.

Das könnte ihm und seinen Kollegen zufolge bedeuten, dass das interstellare Medium in Richtung dieser Pulsare besonders trüb ist und verhindert, dass sich die Teilchen schneller bewegen.

Wenn das stimmt, wäre das ein Problem: Zahlreiche Wissenschaftler glauben, dass Geminga und Monogem einen beträchtlichen Anteil der überschüssigen Positronen der Erde produzieren – sie sind sowohl nah genug als auch alt genug, um dafür als sinnvolle Kandidaten infrage zu kommen. Aber wenn die zwei Pulsare als Ursachen ausgeschlossen werden, so argumentiert das Team, müssen „andere Pulsare, andere Arten kosmischer Beschleuniger wie Mikroquasare und Überresten von Supernovae oder auch die Annihilation oder der Verfall Dunkler Materie“ in Betracht gezogen werden.

EINE AUFGEWÜHLTE DEBATTE

Aber Hooper, dessen Arbeit entscheidend dafür war, die Pulsare als Ursache für die Positronen festzumachen, will sich noch nicht geschlagen geben. Er glaubt nicht, dass die Vermutung des Teams ein trübes interstellares Medium betreffend korrekt ist. Vorherige Beobachtungen mit PAMELA und einem Instrument an der ISS stimmen mit der Anschauung überein, dass Positronen und andere Partikel sich effizient durch den Raum in der Nähe der Erde bewegen.

Obwohl die Studie andeutet, dass es alternative Erklärungen für den Überschuss gibt, scheint keine davon Sinn zu ergeben. Supernovae, die eine der potenziellen Erklärungen sind, können ausgeschlossen werden, sagt Hopper – und zwar aus demselben Grund, aus dem das Team auch Pulsare ausschließt.

„Wenn das interstellare Medium für diese Teilchen wirklich so undurchdringlich ist, wie sie sagen, und Geminga und Monogem sind beide etwa 250 Parsecs entfernt, dann ist die nächste Supernova mindestens genau so weit entfernt und [die Teilchen] hätten exakt dieselben Probleme.“

Tracy Slater, eine theoretische Physikerin am MIT, ist ebenfalls nicht überzeugt davon, dass Teilchen Dunkler Materie eine realistische Erklärung sind. Als der Positronenüberschuss zum ersten Mal auftrat, dachten Wissenschaftler, er könnte eine Spur von Teilchen Dunkler Materie sein, die sich gegenseitig auslöschen und dabei Materie und Antimaterie erzeugen.

Aber man geht davon aus, dass Dunkle Materie den Großteil der Masse des Universums ausmacht. Wenn das also stimmen würde, sollten die Spuren einer solchen Annihilation überall zu finden sein, was sie aber nicht sind, so Slater.

„Persönlich glaube ich, dass es sich nicht um die Annihilation Dunkler Materie handelt. Aber wenn mir jemand erzählen würde, er sei mit einer Zeitmaschine aus der Zukunft in 100 Jahren gekommen und [diese Theorie] sei zutreffend, wäre ich zwar überrascht, aber würde nicht sagen: ‚Nein, das ist unmöglich‘“, sagt sie.

„Vorausgesetzt, dass ich ihm die Sache mit der Zeitmaschine überhaupt abnehmen würde.“

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