So wird aus einer einzigen Stammzelle ein komplexes Lebewesen

Wissenschaftler haben eine Art genetischen Fahrplan erstellt. Dieser zeigt, wie einzelne Zellen sich zu komplexem Leben entwickeln.

Von Nick Lunn
Veröffentlicht am 5. Mai 2018, 06:00 MESZ

Unser Leben ist das Ergebnis von vielen, vielen Entscheidungen. Schule, Karriere, Beziehungen: Jede Entscheidung wird in einer bestimmten Reihenfolge getroffen. Aus dieser Vergangenheit ergibt sich eine nachvollziehbare Karte anhand derer sich verfolgen lässt, wie man zum heutigen Tag gelangt ist.

Zellen bestimmen ihr Schicksal durch Metamorphose auf ganz ähnliche Weise.

„Das Entstehen von verschiedenen Zellarten im Laufe einer Entwicklung ist der Entwicklung eines Kindes sehr ähnlich. Ein Fünfjähriges Kind hat das Potenzial, alles zu tun“, erklärt Sean Megason, Privatdozent für Systembiologie an der Harvard Medical School. Vergleichbar dazu beginnt fast alles Leben auf der Erde mit embryonalen Stammzellen, die sich dann aufgliedern und zu einer Vielzahl spezialisierter Teile eines komplexen Lebewesens werden.

„Zellen, die zu Neuronen werden, sind ein Teil dieser Entscheidungen, Muskelzellen ein anderer“, sagt Megason. Wie genau diese embryonalen Stammzellen ihre Entscheidungen treffen, bleibt jedoch weiterhin ein Rätsel.

VEREINT UND GETEILT

Vielzellige Lebensformen sind, evolutionär gesehen, die neuen Kinder auf dem Schulhof. Sie sind vor etwa 600 Millionen Jahren zum ersten Mal auf der Erde entstanden. Das sind mindestens zwei Milliarden Jahre nach der Entwicklung ihrer einzelligen Vorfahren. Die Einzeller begannen, sich zu teilen und schließlich komplexere Organismen zu bilden. Warum dies geschah, ist bislang nicht vollständig bekannt.

„Am ersten Tag teilen sie sich überwiegend nur. Am Ende dieses Tages ist dadurch ein runder Ball aus Zellen entstanden“, erläutert Megason. „Aber wenn man am nächsten Morgen wiederkommt, ist aus diesem Zellball ein kleiner Fisch entstanden. Er hat Augen, ein schlagendes Herz, Muskeln und er kann mit dem Schwanz wackeln.“

Das unglaubliche Potenzial embryonaler Stammzellen ist Gegenstand vieler Forschungen (und kontroverser Debatten) geworden. Der Grund dafür ist die Hoffnung, eines Tages in der Lage zu sein, Stammzellen sich gezielt zu bestimmten Zellen entwickeln zu lassen. Beispiele wären Gehirnzellen, Haut oder Herzen.  Zwar wurden schon Jahrzehnte der Forschung in das Verständnis der Zellentwicklung gesteckt, doch das meiste davon war ziemlich diffus und unkoordiniert, sagt Megason.

In drei neuen Studien, die im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurden, beobachteten er und zwei weitere Teams der Harvard Medical School die Entwicklung von Zebrabärblingen und Fröschen innerhalb der ersten 24 Stunden. Sie verfolgten dabei Hundertausende von Einzelzellen, um besser zu verstehen, wie und warum sie sich zu spezialisierten Zellen entwickeln.

„Mein Ziel war es, einen Art kompletten Fahrplan zu sehen, der die Entstehung der verschiedenen Zellen in einem Embryo darstellt“, erklärt er. „Es gibt noch viel zu tun, aber es ist der weltweit erste Entwicklungsfahrplan.“

ZELLKARTOGRAPHIE

Diesen Plan zu erstellen, war nicht einfach. Die Wissenschaftler nutzten dafür Einzelzell-Sequenzierung. Bei dieser Technik werden einzelne Zellen in ein Wasser-Öl-Gemisch gegeben und vor der Weiterverarbeitung „gekennzeichnet“. Dieses Verfahren wurde auf Tausende von Zellen angewendet. Die Herausforderung bestand dann in der Auswertung der Daten, was welche Zelle tut.

„Wir stellen uns den Entscheidungsprozess der Zellen über ihr künftiges Schicksal manchmal wie einen Ball vor, der in ein Tal hinabrollt, das sich zunehmend in weitere Täler verzweigt. Der Ball rollt jedoch nicht auf einer 2-dimensionalen Oberfläche, sondern eher auf einer 25.000-dimensionalen Oberfläche, eine für jedes Gen.“

Was zusätzlich zur Verwirrung beiträgt: Spätzünder gibt es auch auf zellulärer Ebene.

„Einige Zellen gehen vielleicht schon sehr jung aufs College und eine medizinische Hochschule, wie Doogie Howser. Andere schlagen denselben Pfad ein, jedoch viel später oder sie brauchen länger dafür“, meint Megason.

Die Ergebnisse der Studie helfen dabei, einige bisherige Vermutungen über das Verhalten von Zellen zu bestätigen. Zellen können unentschlossen und verwirrt sein, sie können eine ganze Bandbreite von Zwischenstadien einnehmen, bevor sie sich für ihre zellulären Karrieren entscheiden. Es gibt sogar verschiedene Wege, um ans gleiche Ziel zu kommen.

Megason hofft, dass die Forschungen der Teams ein „Rezeptbuch“ für Wissenschaftler hervorbringen werden. Dieses soll die Etappen darlegen, die Gene in Embryos beschreiten, um verschiedene Zelltypen entstehen zu lassen. „Diese könnten dann genutzt werden, um durch Verletzung oder Krankheit verlorene Zellen im menschlichen Körper zu ersetzen.“

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