Stress als unsichtbare Gefahr: So können wir uns schützen

Belastungen prägen unsere Gesundheit in jeder Lebensphase. Wissenschaftler wollen herausfinden, was dabei im Körper und im Gehirn vor sich geht und wie wir uns vor den negativen Folgen schützen können.

Von Yudhijit Bhattacharjee
Veröffentlicht am 18. Juni 2024, 13:27 MESZ
Foto: Brian Finke

Meditation wird seit Jahrtausenden praktiziert. Sie hilft bei der Bewältigung von Stress und Ängsten und lindert Schmerzen.

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Ein gutes halbes Jahrhundert ist es her, dass eine Langzeitstudie zu einer überraschenden Entdeckung geführt hat. 1967 begannen Forscher im Großbritannien, den Gesundheitszustand von über 17 500 Beamten im Alter zwischen 40 und 64 Jahren zu verfolgen. Sie fanden heraus, dass Staatsbedienstete, die in der Hierarchie weiter unten standen wie etwa Bürohilfen, früher starben und häufiger an Herzerkrankungen litten als jene mit dem höchsten Dienstgrad. In einer Folgestudie entdeckten die Forscher eine mögliche Erklärung: Personen mit niedrigerem Dienstgrad konnten im Job weniger selbst entscheiden. Durch den Kontrollmangel fühlten sie sich gestresst, was sich negativ auf ihre Gesundheit auszuwirken schien.

In den fünf Jahrzehnten, die seither vergangen sind, ist Wissenschaftlern der Nachweis gelungen, dass negativ empfundener Stress unserer Gesundheit massiv schadet. Er erhöht das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, spielt eine Rolle bei starkem Übergewicht und Diabetes und schwächt das Immunsystem. Das grundlegende Konzept von Stress als Anpassungsreaktion auf belastende Umweltreize geht zurück auf den österreichisch-ungarischen Endokrinologen Hans Selye, der als Vater der Stressforschung gilt. Selye startete 1936 seine richtungsweisende Studie und entdeckte, dass unangenehme Reize – laute Geräusche, intensives Licht oder extreme Temperaturen – Versuchstiere dazu brachten, alles zu tun, um sich bestmöglich an die widrigen Umstände anzupassen. In unserer heutigen Gesellschaft verursachen alltägliche Ärgernisse wie ein Stau Stress, aber auch lebensverändernde Ereignisse wie eine Scheidung oder der Tod eines geliebten Menschen.

Chronischer Stress: Extrem schädlich

Die Folge ist „das Gefühl, nicht über die notwendigen Ressourcen zu verfügen, um sich genug anpassen zu können“, erklärt Greg Norman, Psychologe und Neurologe an der University of Chicago und einer der führenden Stressforscher. Wenn wir uns gestresst fühlen, schüttet unser Körper Adrenalin aus. Der Puls rast, die Atmung beschleunigt sich, die Muskeln kontrahieren, und der Blutdruck schießt nach oben. Dies geht einher mit einem Anstieg des Hormons Cortisol, das uns in einen Kampfoder-Flucht-Modus versetzt. Die Panik, die uns möglicherweise ereilt, wenn wir unvorbereitet eine Rede halten sollen, ist ein Beispiel für akuten Stress – eine psychisch und physisch signifikante Schutzreaktion, von der man sich jedoch rasch wieder erholt. Chronischer Stress ist ein Dauerzustand – genau das macht ihn deutlich schädlicher. „Man lebt ständig mit dem Gefühl: ‚Das ist nicht einfach irgendein Problem, das ist gefährlich!‘“, erklärt Norman.

Finanzielle Belastung ist ein solcher chronischer Stressor, ein tyrannischer Chef ein anderer. Gewisse Formen von Stress erkennen wir allerdings oft erst, wenn sich die Folgen zeigen. Dazu gehört soziale Isolation, wie viele ältere Menschen sie erleben und die während der Pandemie weite Teile der Bevölkerung traf. So fühlten sich laut der deutschen COPSY-Studie insbesondere Kinder und Jugendliche durch die Isolation psychisch beeinflusst. Drei von zehn Kindern und Jugendlichen berichteten selbst Ende 2022 noch von einer geringen Lebensqualität. Vor der Corona-Krise waren es zwei von zehn.

Dem Gallup Global Emotions Report 2023 zufolge hat Stress in vielen Ländern ein Re­kordniveau erreicht, etwa in Afghanistan unter der Taliban und in Sierra Leone, wo die drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten 2022 blutige Proteste auslösten. In marginalisierten, einkommensschwachen Gemeinschaften ist der Stress tendenziell höher, die Auswirkungen sind gravierender. Doch auch Menschen, die in relativem Wohlstand leben, sind nicht dagegen gefeit. Laut der aktuellen Studie „Arbeiten 2023“ befürchten 61 Prozent der deutschen Arbeitnehmer wegen Überbelastung an einem Burn-out zu erkranken, vor der Corona-Pandemie war es nur jeder Zweite. Forscher wollen daher herausfinden, wie genau sich Stress auf Körper und Psyche auswirkt. Eines ist schon jetzt klar: Er schadet jedem, egal in welchem Alter.

Frühe Kindheit

Zehntausende verwaiste und verlassene Kinder, die zwischen den späten 1960erund den 1990er-Jahren in unterbesetzten, schlecht ausgestatteten rumänischen Kinderheimen aufwuchsen, erfuhren unvorstellbare Vernachlässigung und Missbrauch. Wissenschaftler, die Babys aus diesen Einrichtungen untersuchten, stellten teils schwere Entwicklungsstörungen fest. Die elektrische Aktivität der Gehirne der kleinen Kinder lag unter der Gleichaltriger, die in normalen rumänischen Familien aufwuchsen. Bei vielen wurden später psychiatrische Störungen und kognitive Beeinträchtigungen diagnostiziert. Heute gelten die schlimmen Erfahrungen einiger dieser Heimkinder als grausames Beispiel dafür, dass frühkindlicher Stress unauslöschliche Spuren im Gehirn hinterlassen kann.

Diese Studien machten großen Eindruck auf Aniko Korosi, als sie an ihrer Doktorarbeit über die Neurobiologie von Stress arbeitete. Heute forscht sie an der Universität Amsterdam. Mit Mäuseversuchen möchte sie herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen frühkindlichem Stress und der Entwicklung des Gehirns gibt. Dabei fiel ihr eine überraschende Verbindung zwischen Stress und der Nährstoffzusammensetzung im Gehirn auf. Normalerweise werden Mäusebabys die ersten drei Lebenswochen von ihrer Mutter versorgt. „In der ersten Woche setzen wir sie in einen Käfig mit zu wenig Nistmaterial“, erläutert Korosi. Das ist für die Mutter stressig, da sie ständig nach Nistmaterial sucht, aber nichts findet. „Sie wird dadurch immer unruhiger und kümmert sich weniger um ihre Jungen“, so Korosi. Nach dieser ersten schwierigen Woche kommen die Mäusemutter und ihre Kinder in ein komfortables Gehege. „Sofort versorgen die Mütter ihre Jungen wieder normal.“ Es zeigte sich, dass die anfangs vernachlässigten Jungmäuse nach einiger Zeit dasselbe Körpergewicht auf die Waage brachten wie die Altersgenossen, die von Geburt an durchgehend gut versorgt wurden. Doch als Korosi vier Monate später ihre Lern- und Gedächtnisleistung testete, schnitten sie deutlich schlechter ab.

Die Erziehung ihrer Drillinge ist für Caitlin und Chris Nichols aus Georgia eine Herausforderung. Die Kinder kamen zu früh zur Welt und haben gesundheitliche Einschränkungen. Wer sich um chronisch kranke Kinder kümmert, leidet oft selbst: Die Telomere – die Schutzkappen der Chromosomen – sind bei Pflegenden verkürzt – ein möglicher Hinweis für stressbedingte vorzeitige Alterung.

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„Chronischer Stress im Erwachsenenalter hat auch Auswirkungen. Diese sind jedoch oft zeitlich begrenzt und können von selbst wieder verschwinden“, erklärt Korosi. „Chronischer Stress in frühen Lebensphasen hat stärkere und anhaltendere Folgen, da in dieser Zeit viele Verbindungen im Gehirn erst angelegt werden.“ Eine wesentliche Abweichung, die Korosi und ihre Kollegen bei den „gestressten“ Jungmäusen auffiel, betraf die Nährstoffzusammensetzung im Gehirn. Die Werte bestimmter Fett- und Aminosäuren lagen in dieser ersten Woche deutlich unter denen von Mäusebabys, die in einer stressfreien Umgebung aufwuchsen. „Es war wirklich gravierend“, meint Korosi. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, die Entwicklung der Mäusekinder zu normalisieren, wenn sie Futter bekamen, das die fehlenden Nährstoffe enthielt. Die angereicherte Kost wurde zunächst der Mutter verfüttert, die sie über ihre Milch weitergab, und nach der Entwöhnung noch zwei Wochen direkt an die Jungen. Die Forscher warteten einige Monate, bevor sie die nun erwachsenen Mäuse Gedächtnistests unterzogen. Im Gegensatz zu gestressten Tieren, die kein angereichertes Futter erhalten hatten, wiesen diese Mäuse keinerlei kognitive Beeinträchtigung auf.

„Ich war überrascht, dass eine Änderung der Ernährung eine derart starke Wirkung haben kann. Schließlich ist es eine einfache Intervention“, so die Forscherin. Korosi und ihre Kollegen führen auch Studien mit Menschen durch. Seit Kurzem untersuchen sie, ob ein Nährstoffmangel in der Milch gestresster Mütter die Ursache für die schädlichen Auswirkungen von Stress auf das Gehirn ihrer Kinder sein könnte. Tatsächlich fanden die Forscher Hinweise, die diese These stützen. „Wir stellten fest, dass die Muttermilch von Frauen, die stark gestresst sind, eine veränderte Fettsäure- und Aminosäurezusammensetzung aufweist“, sagt Korosi. Wenn künftige Studien weitere Belege hierfür liefern, könnte man, so Korosi, über Nahrungsergänzung für Babys nachdenken, deren Mütter unter übermäßig stressvollen Bedingungen leben. „Geht man von einem Stoffwechseldefizit aus, ist eine normale gesunde Ernährung möglicherweise nicht genug“, sagt sie. „Vielleicht müsste man exakte Konzentrationen eines bestimmten Nährstoffs über einen gewissen Zeitraum verabreichen.“

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