Die Milchstraße - süchtig nach neuen Sternen
Unsere Galaxie erstreckt sich über 120.000 Lichtjahre und hat Hunderte Milliarden Sterne. Modernste Teleskope ermöglichen den Astronomen nun neue Erkenntnisse. Etwa über ein riesiges Schwarzes Loch, das Staub und Planeten verschluckt.
Bescheidenheit zu zeigen könnte uns – den Bewohnern der Milchstraße – schwerfallen, sollten wir einmal mit Außerirdischen aus anderen Sternennebeln ins Gespräch kommen. Denn unsere Galaxis ist heller und gewaltiger als die meisten anderen. Die für das Auge sichtbare Scheibe unserer Milchstraße misst von einem Ende zum anderen 120.000 Lichtjahre. Um sie herum liegt noch eine Hülle aus Wasserstoffgas, die nur mit Radioteleskopen nachweisbar ist. Dutzende kleinerer Galaxien umschwirren unsere Milchstraße wie Monde einen Planeten.
Unsere Sternenheimat hat mindestens einen Planeten mit intelligentem Leben vorzuweisen: die Erde . Riesengalaxien bringen nämlich große Mengen an Eisen, Sauerstoff, Silizium, Magnesium und anderen Elementen hervor. Diese Stoffe, die von den vielen Sternen der Milchstraße erzeugt werden, sind die notwendigen Bausteine erdähnlicher Planeten. Und unentbehrliche Bestandteile des Lebens (wie wir es kennen): Man denke etwa an den Sauerstoff, den wir atmen, das Kalzium in unseren Knochen, das Eisen in unserem Blut.
Wenn in einer kleineren Galaxis ein Stern explodiert, schießen diese Elemente ungebremst in den Weltraum und gehen in der Weite verloren. In der Milchstraße dagegen kollidieren die Teilchen mit interstellarem Gas und Staub. Sie werden zudem vom starken Gravitationsfeld der Galaxis festgehalten und so weit abgebremst, dass sich Gaswolken mit den Zutaten für neue Sternen- und Planetengenerationen anreichern können. Genau das geschah vor 4,6 Milliarden Jahren, als Sonne und Erde aus einem heute verschwundenen interstellaren Nebel entstanden. Ähnliches könnte sich auch in der einen Nachbargalaxis abgespielt haben, die größer ist als unsere: im Andromedanebel.
Über dessen Gestalt wissen wir übrigens mehr als über die Milchstraße, denn den Andromedanebel sehen wir von weit draußen, während wir unsere eigene Galaxis von innen heraus erkunden müssen. Gerade in den vergangenen zehn Jahren haben Astronomen allerdings viele neue Erkenntnisse über unsere kosmische Heimat gewonnen. Ganz besonders über das große Schwarze Loch in ihrer Mitte.
Alle Sterne der Milchstraße kreisen um dieses Schwarze Loch, dem Astronomen den Namen „Sagittarius A*“ gegeben haben (kurz „Sgr A*“, ausgesprochen „Sagittarius A-Stern“). Unsere Sonne ist 27.000 Lichtjahre davon entfernt, und sie braucht für einen einzigen Umlauf 230 Millionen Jahre. Doch mehr als 100.000 Sterne schwärmen in einem Umkreis von nur einem Lichtjahr um das Schwarze Loch. Manche von ihnen rasen in weniger als einem Erdenjahr einmal komplett herum. Aus ihren Bahnen kann man errechnen, dass „Sgr A*“ vier Millionen Mal massereicher ist als unsere Sonne. Hin und wieder schluckt das Schwarze Loch einen herumirrenden Planeten oder gleich einen ganzen Stern. Dabei wird ein solches Opfer so stark aufgeheizt, dass es einen Schwall von Röntgenstrahlen ausstößt. Diese bringen Gaswolken in der Nähe zum Leuchten. Im Jahr 2004 berichteten Wissenschaftler beispielsweise über ein Röntgenstrahlenecho in einer Gaswolke, die rund 350 Lichtjahre vom Schwarzen Loch entfernt ist. Da sich Röntgenstrahlen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, ist offenbar irgendein Objekt 350 Jahre zuvor in das Schwarze Loch gestürzt – vermutlich ein Himmelskörper von der Masse eines kleinen Planeten. Das lässt sich aus der Intensität der Röntgenstrahlen ableiten.
Aber das Schwarze Loch zieht nicht nur an, es schleudert auch fort. 2005 informierten Astronomen die Öffentlichkeit über einen ungewöhnlich schnellen, rund 200.000 Lichtjahre vom Zentrum der Galaxis entfernten Stern. Warren Brown vom Harvard-Smithsonian-Zentrum für Astrophysik hatte den Schnellläufer im Sternbild Hydra entdeckt: Er rast mit 709 Kilometern pro Sekunde (!) – das sind rund 2,5 Millionen Kilometer pro Stunde – aus dem Kern der Milchstraße hinaus. Mit diesem Tempo wird er die Schwerkraft der Galaxis überwinden und irgendwann in den leeren Raum sausen.
Das es so etwas geben könnte, hatte schon 1988 der Astronom Jack Hills in einem Fachartikel beschrieben: Wenn zwei Sterne, die einander umkreisen – ein sogenannter Doppelstern –, „Sgr A*“ zu nahe kommen, könnte einer der beiden auf das Schwarze Loch zustürzen und es auf einer engen Umlaufbahn umkreisen. Dabei würde er sehr viel Energie abgeben. Den geltenden Gesetzen der Physik entsprechend, kann Energie aber nicht verloren gehen. Sie würde vielmehr dem zweiten Stern einen entsprechenden Schub geben, der ihn mit ungeheurer Geschwindigkeit fortschleudert. Browns Entdeckung hat knapp 20 Jahre später Hills Voraussage bestätigt.
Rund um das Schwarze Loch herrscht das Inferno – aber ein fruchtbares. Hier rücken die Sterne dicht zusammen, hier gibt es die größte Konzentration von Leben spendenden Elementen. Noch in der Nähe unserer Sonne – auf halbem Weg zwischen Schwarzem Loch und dem Rand der Milchstraße – sind viele junge Sterne von Staub umgeben, aus dem Planeten hervorgehen können. An den Rändern unserer Galaxis sind die Aussichten dafür viel schlechter.
2009 berichtete die Astronomin Chikako Kasui, die am Nationalen Observatorium in Japan arbeitet, über 111 junge Sterne in einem Außenbezirk der Milchstraße. Die neuen Sonnen sind erst eine halbe Million Jahre alt – nach stellaren Zeitmaßstäben noch Säuglinge –, und sie sind arm an schweren Elementen. Die meisten haben ihre Gas- und Staubscheiben, die andere junge Sterne umgeben, bereits verloren. Ohne Staub aber keine Planeten, ohne Planeten kein Leben. «Life is grim on the galactic rim», kommentierte der Experte Ian O’Neill diese Entdeckung («Das Leben ist hart am galaktischen Rand»).
Noch ärmer an Sauerstoff und Eisen sind viele Sterne, die im Halo – dem gaserfüllten äußeren Ring unserer Milchstraße – stehen, oft ober- und unterhalb der Äquatorebene. Sie sind schon sehr alt; daher konnten sie auch nicht von der Produktion schwerer Elemente durch frühere Sternengenerationen profitieren. Ein typischer Stern im Halo hat nur drei Prozent des Eisengehalts unserer Sonne. Diese Sterne liefern Einblicke in die Entstehung der Galaxis selbst.
Schon als Jungwissenschaftlerin suchte Anna Frebel an der Staatlichen Universität von Australien nach isoliert stehenden Sternen im Halo unserer Milchstraße. «Wenn ich sie untersuche, werde ich in die Vergangenheit blicken können», sagte die Kosmologin, die heute am Harvard-Smithsonian-Zentrum für Astrophysik forscht. Im Jahr 2005 entdeckte sie schließlich im Sternbild der Waage einen Stern im Halo, dessen Eisengehalt nur ein Tausendstel von dem unserer Sonne beträgt. Das ist selbst nach den üblichen Verhältnissen da draußen wenig und deutet darauf hin, dass er ganz, ganz früh entstanden ist. Möglicherweise als Folgeprodukt einer einzigen Supernova, die, als sie explodierte, kaum Eisen von sich gab, dafür aber viele radioaktive Elemente wie Thorium und Uran.
Für Frebel wurde diese Sonne im wahrsten Sinne des Wortes zum Glücksstern. Da radioaktive Elemente mit konstanter Geschwindigkeit zerfallen, konnte sie anhand der Restmenge, die sie in dem Stern maß, sein Alter schätzen: rund 13,2 Milliarden Jahre. Diese Zahl stimmt mit dem Alter überein, das Kollegen für den Halo mit einer anderen Methode ermittelt hatten: mit der Analyse von Kugelsternhaufen. Das sind Ansammlungen sehr alter Sterne, in denen kurzlebigere Sonnen bereits verloschen sind.
13,2 Milliarden Jahre – das bedeutet, dass die Milchstraße kaum jünger ist als das Universum selbst: rund 13,7 Milliarden Jahre. Unsere Galaxis, deren Sterne die Entstehung der Erde – und des Lebens darauf – ermöglichten, ist also ein Produkt vom Anfang der Zeit.
(NG, Heft 12 / 2010, Seite(n) 146 bis 153)