Kosmologie: Die dunklen Mächte des Alls

Wir sehen nur einen
 Bruchteil dessen, was existiert. Doch mittlerweile ahnen Astrophysiker, woraus der große Rest besteht: aus Dunkler Materie und Dunkler Energie. Nun stehen sie vor dem nächsten Rätsel: Was ist das überhaupt?

Von Timothy Ferris
Foto von Robert Clark

Wir sehen nur einen
 Bruchteil dessen, was existiert. Doch mittlerweile ahnen Astrophysiker, woraus der große Rest besteht: aus Dunkler Materie und Dunkler Energie. Nun stehen sie vor dem nächsten Rätsel: Was ist das überhaupt?

Immerhin von einem sind sie überzeugt: Das Universum ist vor 13 Milliarden und 820 Millionen Jahren entstanden – in einem Urknall aus etwas, das kleiner war als ein Atom. Und: Die Sterne und Galaxien, die wir am Himmel sehen, machen wohl alle zusammen nur etwa fünf Prozent des Universums aus. Der weitaus größere, nicht sichtbare Anteil besteht aus etwas anderem: zu 27 Prozent aus Dunkler Materie und zu 68 Prozent aus Dunkler Energie. Und hier wird es wieder mysteriös.

Kosmologen glauben, dass die Dunkle Materie für den Zusammenhalt von Galaxien sorgt und diese zu Scheiben oder Spiralen formt. Nur hat keiner eine Ahnung, um was es sich bei ihr handelt. Die Dunkle Energie ist noch geheimnisvoller: Der Begriff wurde eingeführt, um einen Namen zu haben für jene Kraft, die die Ausdehnung des Kosmos beschleunigt. Solange man aber nicht mehr weiß über diese Energie, ist er nur ein Etikett.

Die Idee, das Universum enthalte große Mengen Dunkler Materie, brachte der schweizerische Astronom Fritz Zwicky erstmals in den 1930er- Jahren ins Gespräch. Er untersuchte damals am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien den mehr als 300 Millionen Lichtjahre entfernten Coma-Galaxienhaufen im Sternbild „Haar der Berenike“. Er berechnete die Geschwindigkeit, mit der die Galaxien um das Zentrum dieses Haufens kreisen. Sein Ergebnis: Die Zentrifugalkraft hätte die rasch umlaufenden Galaxien eigentlich schon längst ins All hinausschleudern müssen. Es sei denn: Der Coma-Haufen enthält viel mehr Masse, als sichtbar war – und ihre Anziehungskraft hält die Galaxien in der Bahn.

Von Kosmologen sagte man früher: Sie irren sich oft, zweifeln aber nie. Heute wissen sie viel mehr. Dafür haben ihre Zweifel kosmische Dimensionen.

Das würde bedeuten, so Zwicky, „dass im Universum Dunkle Materie in viel höherer Dichte existiert als sichtbare Materie“. Galaxien wären gar nicht erst entstanden, wenn nicht die Anziehungskraft dieser mysteriösen Materie den Urstoff zusammengehalten hätte, aus dem sich alles bildete.

Was aber ist die Dunkle Materie? Es kann keine normale Materie sein, die wir nur nicht sehen, weil sie nicht leuchtet. Zwar gibt es im All Billionen dunkler Objekte – Schwarze Löcher, kalte Gaswolken – aber ihre Masse reicht bei weitem nicht aus für die beobachteten Effekte. Deshalb glauben die Wissenschaftler, dass Dunkle Materie aus einem noch eigenartigeren Stoff besteht.

Wie eigenartig, darüber stellen viele nur mehr oder weniger gewagte Spekulationen an. Sie sagen etwa, sie suchten nach „schwach wechsel-wirkenden massereichen Teilchen“, auf Englisch WIMP abgekürzt – was man mit „Schwächling“ übersetzen kann.

Bislang konnte noch niemand Dunkle Materie in Experimenten nachweisen. Dabei ist sie womöglich überall: Jede Sekunde fliegen Milliarden Partikel von ihr durch jeden von uns hindurch, vermuten manche Wissenschaftler. Vielleicht gelingt es modernen Detektoren demnächst, sie zu erfassen?

Instrumenten wie dem Spektrometer an Bord der Internationalen Raumstation ISS, zwei Milliarden Dollar teuer? Es späht nach Hinweisen auf Partikel Dunkler Materie, die im Zentrum der Milchstraße kollidieren und dabei Energie freisetzen. Die meisten Detektoren suchen auf der Erde nach Wechselwirkungen zwischen Dunkler und normaler Materie – zumeist unterirdisch, damit sie möglichst wenig von Partikeln normaler Materie beeinflusst werden, die aus dem Weltraum herabprasseln.

Das empfindlichste Gerät ist der amerikanische „Large Underground Xenon Detector“, zu finden in einer stillgelegten Goldmine in Lead, Süddakota, gleich bei der Hauptstraße, mit dem Aufzug runter, 1480 Meter tief in die Erde. Nach einigen Fehlschlägen wird dort die Suche nach Dunkler Materie gerade wieder aufgenommen. In Genf soll 2015 der „Large Hadron Collider“ („LHC“) nach längerer Umrüstung wieder in Betrieb gehen. Der Teilchenbeschleuniger soll dann so stark sein, dass er einige Partikel Dunkler Materie selbst erzeugen kann. Zumindest hofft man das.

Wer nun glaubt, dass die Dunkle Materie eine verrückte Sache sei, der hat noch nichts von Dunkler Energie gehört. Die sei „das größte Rätsel der ganzen Wissenschaft“, sagt der Astrophysiker Michael Turner, der dem Phänomen 1998 den düsteren Namen gab. Astronomen hatten erkannt, dass unser Weltall sich nicht nur ausdehnt, sondern dass das Tempo der Ausdehnung sogar zunimmt.

Sie hatten damals explodierende Sterne vom Typ Supernova untersucht. Diese sind so hell, dass sie aus großer Distanz beobachtet werden können. Und weil sie alle etwa die gleiche Leuchtkraft entwickeln, kann man aus den sichtbaren Helligkeitsunterschieden die Entfernung von Galaxien ableiten.

Die Forscher waren eigentlich davon überzeugt, dass sich die Ausdehnung des Universums verlangsamt, weil die gegenseitige Anziehungskraft aller Galaxien die Expansion bremst. Doch sie entdeckten das Gegenteil: Seit fünf oder sechs Milliarden Jahren dehnt sich das All immer schneller aus.

TED: Die Dunkle Materie (mit deutschen Untertiteln)

Ist Dunkle Energie dafür verantwortlich?

Und wann ist sie erstmals aufgetreten? Wirkt sie seitdem gleich stark, oder ist sie stärker geworden? Die Antworten könnten den Kosmologen helfen, die Evolution des Universums besser zu verstehen. Dafür müssen sie in die Vergangenheit blicken. Mit neuen Teleskopen und Observatorien können sie das weiter denn je, denn wer Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxien beobachtet, sieht sie so, wie sie vor Milliarden Jahren waren.

Darum gibt es Projekte wie das „BOSS“, das „Baryon Oscillation Spectroscopic Survey“. Dort werden mit einem 2,5-Meter-Teleskop in New Mexico die kosmischen Entfernungen mit einer Fehlergenauigkeit von einem Prozent bestimmt. Beim „Dark Energy Survey“ in den chilenischen Anden wiederum werden Daten über 300 Millionen Galaxien gesammelt. Und ab 2020 soll das „Euclid“-Weltraumteleskop der Europäischen Raumfahrtbehörde Esa dabei helfen, die Entwicklung des Kosmos in den vergangenen zehn Milliarden Jahren präzise nachzuzeichnen.

Große Hoffnung macht auch das „Large Synoptic Survey Telescope“ („LSST“), das derzeit in Chile gebaut wird: ein außergewöhnlich „schnelles“ Teleskop, bestückt mit einem 8,40-Meter-Spiegel und der größten Digitalkamera der Welt. Das extrem lichtstarke „LSST“ schafft es, die gesamte Südhalbkugel des sichtbaren Himmels bis zu zehnmal im Monat komplett abzufotografieren.

So wollen die Weltraumforscher rekonstruieren, seit wann und auf welche Art die Dunkle Energie Einfluss auf die Entwicklung des Alls nimmt. Der Forschungsgegenstand ist nichts Geringeres als die Zukunft des Universums. Und die Zeit läuft. Womöglich haben sich die Galaxien, angetrieben von der Dunklen Energie, irgendwann so weit voneinander entfernt, dass den Kosmologen zur Erforschung nur noch ihre unmittelbare Umgebung bleibt – und darum herum nur die Schwärze des Weltraums.

Doch wenn wir die dunkle Energie tatsächlich verstehen wollen, müssen wir womöglich unser bisheriges Verständnis vom All komplett überdenken. Lange gingen wir davon aus, dass der freie Raum zwischen Planeten und Sternen völlig leer sei. Allerdings gab schon Isaac Newton im
17. Jahrhundert zu bedenken, er könne sich nicht vorstellen, wie die Anziehungskraft die Erde um die Sonne kreisen lasse, wenn der Raum dazwischen ein Vakuum wäre.

Im 20. Jahrhundert lieferte die Quantenfeldtheorie eine Antwort. Sie besagt, dass der Raum niemals wirklich leer, sondern von Quantenfeldern durchdrungen sei. Protonen, Elektronen und andere Partikel, kurzum alle Bausteine der Materie, seien nur angeregte Zustände von Quantenfeldern. Der Weltraum erscheine leer, wenn diese Felder auf ihrem niedrigsten Energieniveau verharren. Erst wenn sie angeregt würden, belebe sich der Raum mit sichtbarer Materie und Energie. Der Mathematiker Luciano Boi vergleicht das All mit Wasser in einem klaren Alpensee: Es ist unsichtbar, wenn er still daliegt, aber sobald der Wind seine Oberfläche kräuselt, kann es jeder sehen.

„Die überraschendste Physik“, behauptete einmal der 2008 gestorbene amerikanische Astrophysiker John Archibald Wheeler, „findet im sogenannten leeren Raum statt.“

Es könnte sein, dass die Dunkle Energie ihn posthum bestätigt. Bis heute stützen sich Physiker im Wesentlichen auf Einsteins vor einem Jahrhundert formulierte Allgemeine Relativitätstheorie, wenn sie die Ausdehnung des Kosmos begreifen wollen. Diese Theorie funktioniert gut in großen Dimensionen, versagt aber auf der mikroskopischen Ebene. Genau dort aber müsste der Grund für die sich beschleunigende Expansion des Weltraums zu finden sein, im Reich der Quantentheorie. Vielleicht braucht man etwas komplett Neues: eine Quantentheorie des Raums und der Gravitation.

Die Wissenschaft kann allerdings noch nicht einmal bestimmen, wie viel Energie das All enthält. Wenn ein Quantentheoretiker berechnet, wie viel Energie in einem Liter scheinbar leeren Raums steckt, kommt er auf eine hohe Zahl. Macht ein Astronom dasselbe, kommt er auf eine niedrige Zahl. Der Unterschied ist gigantisch: 10121, eine Eins mit 121 Nullen. Mehr als es Sterne im sichtbaren Universum gibt. Niemals in der Wissenschaft gab es eine größere Diskrepanz zwischen Theorie und Beobachtung.

Doch solche Rätsel haben auch früher schon zu großen Entdeckungen geführt. Einstein entwickelte seine Allgemeine Relativitätstheorie unter anderem, um die winzigen Unterschiede zwischen der berechneten und der beobachteten Umlaufbahn zu erklären. Wie viel können wir dann erst lernen, wenn wir die viel größeren Mysterien der Dunklen Materie und Dunklen Energie aufklären? Wie der große Physiker Niels Bohr einmal sagte: „Wie wunderbar, wir sind auf ein Paradoxon gestoßen. Nun können wir hoffen, Fortschritte zu machen.“

 

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