Geniale Idee: ein digitaler Kummerkasten

Drei Teenager aus Berlin bieten mit krisenchat.de Jugendlichen mit Problemen rund um die Uhr Hilfe.

Von Julia Graven
Veröffentlicht am 1. Sept. 2020, 15:22 MESZ
Hilfe bei Mobbing per Whats-App

Schnelle und unkomplizierte Hilfe bei Sorgen und Nöten: Dank krisenchat.de können Kinder und Jugendliche unkompliziert per Whats-App mit Krisenberatern Kontakt aufnehmen.

Foto von diego cervo, Stock.adobe.com

Ende Februar saßen die jungen Sozialunternehmer bei Familienministerin Franziska Giffey auf dem Sofa, um über Mobbing an Schulen zu sprechen. Nach dem Abitur im vorigen Jahr wollten sie mit voller Kraft an einer Anti-Mobbing- App arbeiten. Die Idee war in einem Schülerwettbewerb entstanden und hatte schon einige Auszeichnungen gewonnen. Doch kurz nach dem Besuch im Ministerium wurden die deutschen Schulen wegen Corona geschlossen. Innerhalb von vier Wochen stellten Kai (19), Jan (18) und Julius (19) daher ein neues Hilfsangebot auf die Beine: Krisenchat.de berät Kinder und Jugendliche per WhatsApp, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Da die drei Freunde merkten, dass Corona die Probleme von Kindern und Jugendlichen weiter verschlimmerte, musste es schnell gehen. „Am 2. April hatten wir die Idee – und am 2. Mai um 10 Uhr morgens ging die erste Chatnachricht ein“, erzählt Julius de Gruyter.

Chat mit echten Krisenberatern

„Hallo! Schön, dass du uns bei krisenchat.de schreibst“ lautet die erste Standardantwort, die das Einverständnis zu Datenschutz und Nutzungsbedingungen abfragt. Sekunden später meldet sich ein echter Krisenberater. Berater können Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Psychotherapeuten sein, alle arbeiten ehrenamtlich. Eine von ihnen ist Birte Hackbarth, 30, die gerade ihren Master in Psychologie macht. Dreimal pro Woche übernimmt sie eine zweistündige Schicht. In den Chats geht es um Liebeskummer oder Motivationsprobleme, aber auch um gravierende Themen wie häusliche Gewalt oder Selbstverletzung. Manchmal reichen zehn Minuten, andere Nutzer schreiben über Wochen. Oft hört Hackbarth: „Du bist der erste Mensch, mit dem ich darüber gesprochen habe.“

Ein Handbuch gibt die ungefähre Vorgehensweise vor und listet zum Beispiel Kliniken oder Kinderschutzzentren. Bereits während der Beratung können die Ehrenamtlichen in einem Onlineportal, das Informatik-Freak Jan programmiert hat, andere Ehrenamtliche um Hilfe fragen. Alle zwei Wochen bieten die hauptamtlichen psychologischen Leiterinnen Supervision für die Krisenberater an. Für Birte Hackbarth schließt krisenchat.de eine große Lücke, da gerade während des Lockdowns viele Hilfsangebote weggebrochen seien. „Die Jugendlichen bedanken sich zum Teil noch Wochen später, das hätte ich gar nicht gedacht“, erzählt sie.

Junge Sozialunternehmer: Kai Lanz, Julius de Gruyter und Jan Wilhelm (v. l.) treffen mit Krisenberatung per Whats- App die Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen.

Foto von Patrick Desbrosses

Vorteil: immer erreichbar

Was das Projekt einzigartig macht, ist die sofortige Erreichbarkeit rund um die Uhr. Etablierte Angebote wie die „Nummer gegen Kummer“ helfen auch per Telefon, Mail oder im Chat. Allerdings ist der Chat nur vier Tage die Woche für je zwei Stunden offen. Die Telefonhotline steht von 14 bis 20 Uhr zur Verfügung, außer sonntags. „Wir haben aber gerade die meisten Anfragen nach 20 Uhr und sonntags“, erzählt Julius de Gruyter. Probleme warten nicht. Außerdem sei für seine Generation der Chat das „native Medium“. Kinder und Jugendliche telefonieren nicht gern, sagt er. Dafür nutzen 95 Prozent aller jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren WhatsApp auf dem Handy. Die drei Krisenchat-Gründer wissen, dass die Chat-App in der Beratung umstritten ist. Der Facebook- Konzern, zu dem WhatsApp gehört, kann auf die Metadaten der Nutzer zugreifen, weiß also, wer mit wem wann und wie oft kommuniziert hat. „Wir werden bald auch Chats per SMS oder über die App Telegramm anbieten, damit die Jugendlichen Alternativen zu WhatsApp haben“, sagt Julius de Gruyter.

Noch wohnen Kai, Julius und Jan zu Hause und werden von den Eltern finanziert. Doch sie haben ein großes Ziel: Krisenchat.de soll das größte Hilfsangebot für Kinder und Jugendliche werden, mit einem Geschäftsmodell, das sich trägt. Für die Hilfesuchenden soll es kostenlos bleiben.

 

Dieser Artikel wurde ursprünglich in der August 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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