Solange noch Zeit ist
Der National Geographic Fotograf Joel Sartore fotografiert seit vielen Jahren seltene und vom Aussterben bedrohte Tierarten.
Eine Woche, nachdem Joel Sartore das Nördliche Breitmaulnashorn 2015 in einem tschechischen Zoo fotografiert hatte, verendete das Tier an Zysten. In freier Natur war die Art schon 2008 ausgestorben, Als Sartore sein Foto machte, lebten nur noch vier weitere Exemplare – in Gefangenschaft. Ein Nashorn starb kurz darauf und vor wenigen Monaten nun ein weiteres, der letzte Bulle. Seine Tochter und seine Enkelin sind jetzt die weltweit letzten Überlebenden ihrer Art. „Fünf Nashörner, noch vier, noch drei – wir sind kurz berührt, dann geht unser Leben gewohnt weiter“, sagt Sartore. „Ich möchte verhindern, dass Arten aussterben, indem ich die Schönheit, die Intelligenz und Würde jedes Tiers zeige, solange es noch Zeit ist einzugreifen. Bevor die Öffentlichkeit beschließt etwas zu retten, muss sie wissen, dass es existiert.“
Mehr als 8000 Arten hat Joel Sartore seit 2006 für sein Projekt „The Photo Ark“ (Fotoarche) dokumentiert – ein Archiv sämtlicher Tierarten in Gefangenschaft soll es schließlich werden.
Auslöser für den Beginn des Mammutprojekts war ein Schicksalsschlag: die Krebserkrankung seiner Frau Kathy. Plötzlich war der Fotograf zuhause, um für sie und die drei Kinder zu sorgen. Er konnte nicht mehr reisen und fotografieren. Und hatte, während Kathy sich allmählich erholte, Gelegenheit, nachzudenken: Meine Zeit ist begrenzt, was kann ich tun?
Um etwas Geld zu verdienen, besuchte Sartore den Kinderzoo an seinem Wohnort Lincoln im US-Bundesstaat Nebraska und versuchte die für ihn neue, reduzierte Studioaufnahme eines Tieres. Das erste Porträt der Photo Ark entstand: Es zeigt einen Nacktmull – ein hässliches Tier ohne Fell und mit vorstehenden Zähnen. Kathy überlebte, und Sartore blieb bei seiner neuen Aufgabe. Jetzt wurde er als „Rolex National Geographic Explorer of the Year“ ausgezeichnet.
Auf seinen Bildern lenkt nichts vom eigentlichen Star ab. Alle Tiere werden mit sanftem Studiolicht vor schwarzem oder weißen Hintergrund porträtiert, die kleinen in einem mit Stoff oder Papier abgehängten Behälter, die größeren im Gehege. Boden und Wand des Geheges werden für die Aufnahmen mit weißer oder schwarzer Hintergrundfarbe gestrichen oder abgeklebt. „ Die Maus sieht dann so genauso interessant und groß aus wie der Eisbär“, erklärt Sartore. Der bewusst neutrale Hintergrund soll außerdem die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Besonderheiten des Tiers lenken: auf das Muster seines Fells, die Farbe der Federn, die ungewöhnlichen Ohren. Die Augen der Tiere scheinen direkten Kontakt mit dem Betrachter aufzunehmen.
Man sieht kleine Kreaturen wie das Weißbauchschuppentier, von dem fälschlicherweise angenommen wird, dass seine Keratinschuppen heilende Eigenschaften haben – und das deshalb in einem Maße gejagt wird, dass es inzwischen als gefährdet gilt. Oder den Ecnomiohyla rabborum, einen seit kurzem ausgestorbenen Laubfrosch aus Panama, der auffallend große Finger und Zehen hat. Dazu große Tiere wie Nashörner und Eisbären oder Vögel mit wunderschönem Gefieder wie den Himalaya-Glanzfasan. Viele skurrile Tiere sind darunter: Der Pyrenäen-Desman aus der Familie der Maulwürfe mit einer langen Rüsselnase, mit der er im Wasser nach Insekten jagt, oder die Riesenohr-Springmaus, die wie ein kleines Känguruh hüpft und Elefantenohren hat. Auf die Frage, welche der Arten ihm die liebste ist antwortet Sartore: „die nächste!“
Bevor Sartore beginnt, lässt er sich von den Tierpflegern über die Beonderheiten und das Verhalten seiner Modelle informieren. Die Fotosessions dauern bei den großen Tieren etwa 30 Minuten, bei den kleinen oft nur zwischen 30 Sekunden und wenigen Minuten, um Stress zu vermeiden. Manche Tiere ließen ihn dennoch ihren Unmut spüren: Ein Langschopf-Hornvogel schlug den Fotografen heftig mit dem Schnabel und hackte auf die Kamera ein, ein Mandrill boxte ihm ins Gesicht. Schimpansen wollten sich lange gar nicht fotografieren lassen, innerhalb von Sekunden zerstörten sie den mühsam angeklebten Hintergrund.
Sartore nimmt an, dass er noch weitere 13 Jahre fotografieren muss, um sämtliche 12 000 bis 15 000 Arten aufzunehmen. Dafür reist er unermüdlich um die Welt, in mehr als 40 Ländern hat er bereits Aufnahmen in Zoos, Aquarien und Auffangstationen für Wildtiere gemacht.
Der Verlust der Artenvielfalt stellt heute eine der schlimmsten Katastrophen weltweit dar. Mehrere tausend Tier- und Pflanzenarten verschwinden jährlich. Sartores Bilder halten die Erinnerung an die Existenz der verschwundenen Tiere wach und schärfen das Bewusstsein für die gefährdeten Arten.
Lesen Sie auch Joel Sartores Bericht über seine gefährliche Begegnung mit Flughunden in Ausgabe 9/2018 des National Geographic-Magazins.