Flüchtlinge: Großbritanniens Geheimwaffe gegen die Nationalsozialisten

Viele Europäer flohen in das Land, das sie die Insel der letzten Hoffnung nannten, und wurden dort Piloten, Spione und Saboteure.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:36 MEZ
Nach seiner Flucht nach England wurde das polnische Fliegerass Jan Zumbach (links) Mitglied der 303. (polnischen) Staffel der Royal Air Force. Es war die erfolgreichste Fliegerstaffel in der Luftschlacht um England.
Foto von Fox Photos, Hulton Archive, Getty Images

Es gibt Momente, zum Beispiel während Kriegen oder Terroranschlägen, da erreichen Städte und ihre Einwohner ein neues Maß an Solidarität und Widerstandsfähigkeit. Das passierte am 11. September 2001 in New York City und kürzlich auch in Manchester. In „Last Hope Island: Britain, Occupied Europe and the Brotherhood That Helped Turn the Tide of War“ (dt. Die Insel der letzten Hoffnung: Großbritannien, das besetzte Europa und die Bruderschaft, die half, das Blatt des Krieges zu wenden) versetzt Lynne Olson ihre Leser zurück nach London während der Zeit des Blitzkriegs im Zweiten Weltkrieg. In ihrem Buch legt die New York Times-Bestsellerautorin dar, wie die britische Hauptstadt dem aggressiven Vorrücken der Nationalsozialisten die Stirn bot. Sie erklärt, wie London für zahlreiche europäische Exilregierungen und königliche Familien zum Zentrum des Widerstands wurde, darunter die Freien Franzosen von Charles de Gaulle und der König von Norwegen.

Bei einem Telefonat von Washington, D.C. aus erzählt Olsen National Geographic, wie die Erfahrungen im London Blitz Madeleine Albright zutiefst bewegten. Sie erklärt, warum es wichtig ist, sich in einer Zeit des Zynismus und der Polarisation an Großbritanniens Kampf gegen das Böse zu erinnern, und warum der Brexit nicht passiert wäre, wenn Churchill das Nachkriegseuropa angeführt hätte.

Buchcover von "Die Insel der letzten Hoffnung: Großbritannien, das besetzte Europa und die Bruderschaft, die half, das Blatt des Krieges zu wenden"
Foto von Random House Publishing

Sie haben schon mehrere Bücher über London und Großbritannien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Was inspiriert Sie so an dieser Periode – und an diesem Ort?

Sie ist so grundlegend und so elementar. Es geht um Leben und Tod. Es ist für die Menschen eine Möglichkeit herauszufinden, aus welchem Holz sie geschnitzt sind. Es ging nicht nur um die bewaffneten Militärstreitkräfte, sondern um jeden auf dieser Insel – um den Mut einer ganzen Stadt und eines ganzen Landes!

Ein Grund, warum die öffentliche Meinung des amerikanischen Volkes sich aus dem tiefen Isolationismus von 1939 bis 1940 herausbewegte, waren Churchill und der Mut der Briten. Die USA waren noch nicht in den Krieg eingetreten. Es würden noch anderthalb Jahre bis zum Angriff auf Pearl Harbor vergehen. In den frühen Tagen war Großbritannien das Zentrum des Krieges in Europa. Wenn das Vereinigte Königreich gefallen wäre, Gott weiß, was dann passiert wäre. Wir hätten das Bollwerk verloren, das wir brauchten, um auch nur im Entferntesten über eine Invasion zur Befreiung Europas nachzudenken.

Warum der Titel „Last Hope Island“?

Es heißt „Last Hope Island“, weil die polnischen Piloten, die der Royal Air Force (RAF) beigetreten sind, es so genannt haben. Als Polen im September 1939 von Hitler besiegt wurde, verließen viele Angehörige des Militärs das Land, weil sie weiterkämpfen wollten. Erst gingen sie nach Frankreich, und als Frankreich 1940 fiel, zogen sie weiter nach Großbritannien. Sie nannten England das Land der letzten Hoffnung, weil es genau das war. Es war die letzte Hoffnung für die Freiheit Europas.

Der Sieg über Hitler wird von Historikern oft als anglo-amerikanische Errungenschaft charakterisiert. Ihr Buch preist den Beitrag, den im Exil lebende Europäer in London geleistet haben. Erklären Sie uns, warum deren Mitwirken von so entscheidender Bedeutung war.

Als Churchill die Türen Großbritanniens für die Europäer öffnete, sah es für das Land gerade extrem düster aus. Frankreich war gerade gefallen, das restliche Westeuropa war verloren und Großbritannien stand ganz allein da. Sie brauchten einfach alles. Sie brauchten Geld, um die Waffen zu bezahlen, die sie von den USA kauften. Sie brauchten Leute. Die britische Armee wurde bei den Kämpfen um Frankreich und Belgien dezimiert. Sie hatten enorme Verluste von Flugzeugen und Waffen zu verzeichnen, also brauchten sie dringend Stiefel auf dem Boden und Piloten in den Cockpits.

Belgien hatte Großbritannien seine Goldreserven geliehen, damit sie die Zahlungen für die amerikanischen Waffen leisten konnten, die sie bekamen. Norwegen hatte die viertgrößte Handelsflotte der Welt. Die Schiffe verpachteten sie an die Briten, wodurch diese die Atlantikschlacht überlebten und weiterhin die Nahrungsmittel und Versorgungsgüter erhalten konnten, die sie brauchten.

All diese Menschen riskierten ihr Leben, um London zu erreichen, nachdem die Nationalsozialisten in ihre Länder eingefallen waren. König Haakon, der König von Norwegen, wurde durch die Berge gejagt, als die Deutschen im April 1940 einmarschierten. Er weigerte sich, sich zu ergeben. In seiner Wut befahl Hitler, dass man ihn aufspüren und umbringen solle. Das gelang den Deutschen aber nicht, und so wurde König Haakon schließlich außer Landes geschmuggelt und samt seinen Truppen und Handelsschiffen nach London gebracht.

Der tschechische Exilant Josef Korbel mit seiner Tochter Marie, die später als Madeleine Albright die Außenministerin der USA wurde.
Foto von Time Life Pictures, Department Of State, The LIFE Picture Collection, Getty Images

Auch viele tschechische Amtsträger schafften es nach London, darunter auch ein Mann namens Josef Korbel, der Teil der tschechischen Exilregierung wurde. Er war der Vater einer vierjährigen Tochter, die später die erste weibliche Außenministerin der USA werden würde, Madeleine Albright. Ihre Erfahrungen während des Blitz in London hinterließen bei ihr einen tiefen Eindruck und beeinflussten ihr Verhalten als Außenministerin.

Von allen Exilgruppen schienen die Polen die beliebtesten zu sein. Erzählen Sie uns etwas über die polnischen Fliegerasse und ihre „Mütter“.

 [Lacht] Die polnischen Piloten waren die größte Gruppe europäischer Piloten in der RAF. Die Briten hatten ein paar versnobte Vorstellungen von Osteuropäern. Sie dachten, die würden Jahrhunderte hinter Westeuropa herhinken, und wollten nichts mit Polen oder Tschechen zu tun haben. Aber um die Luftschlacht um England zu gewinnen, brauchten sie so viele qualifizierte Piloten wie möglich. Und die Polen gehörten zu den am besten qualifizierten.

Eine der polnischen Fliegerstaffeln war die 303. Staffel oder die Kosciuszko-Staffel. Die Polen hatten sie nach dem Kriegshelden der amerikanischen Revolution benannt. Die Mitglieder dieser Staffel zählten zu den Top-Piloten in Polen und bewiesen sich während der Luftschlacht um England. Sie waren mit Abstand die Staffel mit der höchsten Abschussrate und schossen mehr deutsche Flugzeuge als alle anderen ab, die Briten eingeschlossen.

Infolgedessen wurden die polnischen Piloten außerordentlich beliebt in England. Eine Zeitung nannte sie die „Glamour Boys“ (dt. etwa Zauberjungs). Die britischen Frauen verliebten sich Hals über Kopf in die Männer. Unter ihren Anhängern befanden sich auch ein paar weibliche Mitglieder der feinen Gesellschaft, die miteinander in Wettstreit darum traten, die „Mütter“ einiger Staffeln zu werden. Sie adoptierten je eine Staffel und veranstalteten dann Partys für sie und stellten ihnen Kleidung bereit. Das wurde eine richtig große Sache in der höheren Gesellschaft, eine polnische Fliegerstaffel zu adoptieren.

Dank James Bond kennt jeder den MI6. Die wenigsten haben je von der SOE gehört, obwohl sie einen bedeutenden Beitrag zum Widerstand gegen Hitler geleistet hat. Geben Sie uns einen Einblick in die Organisation und beschreiben Sie uns einen ihrer waghalsigsten Einsätze – den Überfall auf das Wasserkraftwerk Vemork.

SOE steht für Special Operation Executive (dt. Sondereinsatztruppe). Sie wurde 1940 gegründet, um im besetzten Europa Sabotageakte durchzuführen und Regierungen zu zersetzen. Der Gedanke dahinter war, Agenten loszuschicken, die Widerstandskämpfer trainieren sollten, um in den besetzten Ländern Guerillakriege gegen die Deutschen zu führen.

Auf vielerlei Art war das ein Akt der Verzweiflung. 1940 gab es nicht viele Möglichkeiten, wie Großbritannien gegen die Deutschen ankämpfen konnte. Es gab ein Schiffsembargo und die RAF hatte damit begonnen, Deutschland zu bombardieren. Es gab allerdings keine Pläne, Truppen zurück ins besetzte Europa zu schicken.

Der MI6 hat die SOE sogar gehasst, weil er glaubte, sie würde sich dessen Mission aneignen. Der MI6 ist eine britische Spionageorganisation. Die SOE war eine Sabotageorganisation. Ein Historiker machte mal einen Witz über den Unterschied zwischen einem Agenten der SOE und des MI6. Er sagte, wenn ein MI6-Agent sah, dass feindliche Truppen eine Brücke überquerten, würde er sich diskret im Hintergrund halten, die Truppen zählen und diese Information an das Hauptquartier weiterleiten. Ein SOE-Agent würde die Brücke einfach sprengen.

Eine der größten SOE-Missionen fand in Norwegen statt. Eine Gruppe von Norwegern, die von der SOE ausgebildet worden waren, wurden in ihr Heimatland geschickt, um eine Schwerwasserfabrik in die Luft zu jagen. Großbritannien und die USA fürchteten, dass Deutschland das Rennen um die Entwicklung einer Atombombe gewinnen würde, wenn es die Fabrik unter seine Kontrolle bekäme. Also entschieden sich Churchill und das SOE, das Kraftwerk auszuschalten.

Es stand auf einer Klippe, etwa 80 Kilometer nördlich von Oslo. Es war völlig abgeschieden und unmöglich zu erreichen. Trotzdem schafften es diese jungen norwegischen Saboteure, den Klippenvorsprung zu erreichen, in das schwer bewachte Kraftwerk einzudringen und Sprengsätze anzubringen, die das Gebäude schwer beschädigten. Es war eine der atemberaubendsten Missionen, die während des Zweiten Weltkriegs von Saboteuren durchgeführt wurde.

Die von den Briten trainierten norwegischen Saboteure erklommen eine Klippe, um das Wasserkraftwerk Vemork zu zerstören. So hinderten sie die Nationalsozialisten an der Entwicklung einer Atombombe.
Foto von David Gale, Alamy

Der Film „The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben“ preist Alans Turings Leistung, den Enigma-Code zu knacken. Allerdings hätte er das nicht ohne die (mittlerweile vergessene) Hilfe der Franzosen und vor allen der Polen geschafft, nicht wahr?

Was bei der Erzählung der Geschichte über die Enigma verloren geht, ist die Tatsache, dass die Briten nicht die ersten waren, die den Code geknackt haben. Die Polen haben das dank der Hilfe von französischen Geheimdienstlern schon in den 1930ern geschafft. Bis zur Invasion Polens im September 1939 konnten sie auch weiterhin deutsche Geheimdienstnachrichten lesen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Briten Enigma noch nicht entschlüsselt. Kurz vor Ausbruch des Kriegs hatten die polnischen Codeknacker die Franzosen und die Briten in ihr Hauptquartier eingeladen und ihnen Nachbildungen der Enigma-Maschine überreicht, die sie selbst gebaut hatten. Außerdem gaben sie ihnen Informationen darüber, wie man sie benutzte. Die Briten sind weit über das hinausgegangen, was die Polen geschafft haben. Aber ein paar der frühen Codeknacker wie Alan Turing sagten, dass sie ohne die Polen nie so weit gekommen wären.

Der D-Day wird zu Recht als eine heldenhafte Leistung der mutigen Alliierten gefeiert. Aber die Landung an der Normandie und Omaha Beach wäre nicht ohne die Tapferkeit zahlloser europäischer Spione möglich gewesen, nicht wahr?

Die Landung am D-Day (6. Juni 1944) fußte auf den Informationen, die Spione aus besetzten Ländern – hauptsächlich Frankreich und Polen – übermitteln konnten. Die französischen Geheimdienstnetzwerke spionierten an den Küsten der Normandie und in anderen Teilen Frankreichs. Sie lieferten Informationen und Karten deutscher Stellungen und Verteidigungen an Küsten.

Daran waren Hunderte französischer Männer und Frauen beteiligt. Die Polen hatten ebenfalls Spione in Frankreich. Infolgedessen hatten die Briten und Amerikaner, die die D-Day-Invasion planten, eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo sich alles befand. Viele dieser Männer und Frauen wurden vor oder nach den D-Day-Landungen gefangen genommen und hingerichtet. Aber ohne den Mut dieser Spione wäre der Erfolg der Landungen nicht möglich gewesen.

2016 stimmte Großbritannien dafür, die EU zu verlassen. Was denken Sie, wie sind wir von der Geschlossenheit der Kriegsjahre zum Brexit gekommen?

Ich war sehr gegen den Brexit. Ich denke, dass Großbritannien trotz aller Frustrationen in der EU deutlich besser dran ist. Das Interessante ist, dass es die EU ohne Churchill und Großbritannien vielleicht nie gegeben hätte. Es war Churchill, der die Europäer alle in London versammelt hat. Während des Krieges haben sie in London zusammengearbeitet, gesellschaftliche Kontakte gepflegt und die erste Saat für eine Bewegung für die europäische Einheit ausgesät. Sie glaubten, dass sie ihre Kräfte vereinen und zusammenarbeiten mussten, wenn sie einen weiteren Krieg verhindern wollten. Und sie wollten unbedingt, dass Großbritannien und Churchill die Führer der Bewegung zur Vereinigung Europas würden.

Aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfielen die Briten wieder in ihre Insel-Mentalität, losgelöst von Kontinentaleuropa. Churchill wollte, dass das Schicksal Großbritanniens mit dem Britischen Weltreich verknüpft war und mit dem, was er als gleichberechtigte Partnerschaft mit den USA ansah. Aber beides davon trifft nicht mehr zu. Das Weltreich ist zerfallen und diese „besondere Beziehung“ war nie so besonders, wie Churchill es gern gehabt hätte. Damit haben die Briten also eine Chance vertan. Sie hätten die Anführer Europas sein können. Aber sie haben sich dagegen entschieden.

Warum ist es für die jungen Leute wichtig, etwas über Großbritanniens Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu lernen?

Dafür gibt es viele Gründe. Junge Menschen sollten die Geschichte kennen. Man lernt daraus und sie verändert die Art, wie man moderne Ereignisse betrachtet. Speziell in dieser Zeit des Zynismus und der Polarisation ist die Vorstellung von einem Großbritannien, das sich dem Totalitarismus energisch widersetzt, sehr wichtig. Der Gedanke an diese kleine Insel und Tausende von Individuen, die etwas bewirken, die Nazi-Deutschland eine lange Nase machen und am Ende als Sieger hervorgehen, ist wichtig. Etwas, wonach ich beim Schreiben von Büchern immer suche, sind vergessene Helden – Menschen, die etwas sehr Wichtiges geschafft haben, von denen aber niemand weiß. In neun von zehn Fällen sind das keine Premierminister, Präsidenten oder Generäle. Es sind ganz gewöhnliche Menschen, die mutig und unnachgiebig waren und große Dinge erreicht haben.

Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

Simon Worrall auf Twitter oder seiner Webseite folgen.

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