Warum die alte Tradition der Rentierhirten in Gefahr ist

Jedes Jahr ziehen die Nenzen mit ihrer Herde 1200 Kilometer durch Sibirien. Zwei moderne Hindernisse sind im Weg: der Klimawandel und ein gigantisches Erdgasfeld.

Von Gleb Raygorodetsky
bilder von Evgenia Arbugaeva
Veröffentlicht am 27. Okt. 2017, 11:43 MESZ
Nenze Njadma Chudi mit Rentieren
Der Nenze Njadma Chudi führt seine Rentiere über das Gasfeld Bowanenkowo auf der sibirischen Jamal-Halbinsel. Um zu den Sommerweiden zu gelangen, müssen die Tiere unter Pipelines hindurch. Früher scheuten sie vor den Gasleitungen, heute haben sie sich daran gewöhnt.
Foto von Evgenia Arbugaeva

Juri Chudi hockt in seinem geräumigen Tschum an der Feuerstelle. Er hat den Reißverschluss geöffnet, mit dem ein Moskitonetz an seiner Kapuze befestigt ist. Draußen wogt die sibirische Tundra nordwärts Richtung Polarmeer. Neben Chudis Tschum stehen im Halbkreis sieben weitere tipiähnliche Zelte. Auf einem Bergrücken in der Nähe grast eine Rentierherde. Es ist Mitte Juli – die Gruppe der Rentierhirten, die Chudi leitet, hat die halbe Strecke ihrer Wanderroute über die Jamal-Halbinsel hinter sich. Sie führt fast 600 Kilometer bis zur arktischen Küste. Jedenfalls in normalen Jahren.

„Vor drei Jahren haben wir das letzte Mal den ganzen Weg bis zu unseren Sommerweiden an der Karasee geschafft“, sagt Chudi. „Danach waren unsere Rentiere zu schwach für die lange Reise.“ Im Winter 2013/14 brachte zunächst eine ungewöhnlich warme Phase Regen in den Süden der Jamal-Halbinsel. Der darauf folgende starke Frost überzog die Weiden mit einer dicken Eisschicht. Rentiere scharrten im Schnee nach Flechten, das Eis jedoch konnten sie nicht aufbrechen. Zehntausende Tiere verhungerten in Chudis und anderen Herden. Bis heute haben sich die überlebenden Tiere immer noch nicht vollständig erholt.

Seit Jahrhunderten unternehmen die Nenzen ihre jährliche Wanderung, mit insgesamt 1200 Kilometern eine der längsten der Welt. Chudis Gruppe heißt Brigade 4, ein Relikt aus den Zeiten der sowjetischen Zwangskollektivierung. Im Kommunismus wurden die Nenzen wegen ihrer Religion verfolgt, davor überstanden sie Jahrhunderte russischer Herrschaft. Während all dieser Zeit haben sie es geschafft, ihre Sprache, ihre animistische Weltsicht und ihre nomadischen Traditionen zu erhalten. „Die Nenzen sind eine der widerstandsfähigsten indigenen Volksgruppen in der Arktis“, sagt Nenzen-Experte Bruce Forbes, Professor für Geografie an der Universität Lappland in Finnland. 

In Zukunft wird ihre Widerstandsfähigkeit wohl noch mehr auf die Probe gestellt – und auf neue Weise. Klimaforscher sind sich sicher: So genannte „Rain on snow“-Ereignisse wie jenes, bei dem vor vier Jahren die Herden starben, werden durch die Klimaerwärmung immer häufiger in der Arktis auftreten.

Doch der Klimawandel ist nicht mal die größte Bedrohung für die Nenzen. Unter den Weiden der Rentiere liegen gewaltige Erdgasreservoirs. Fördertürme und Pipelines breiten sich immer weiter aus, Zufahrtswege zerschneiden die traditionellen Wanderrouten. Dabei ist die Fläche Jamals schon jetzt knapp für die geschätzten 255.000 Rentiere und 6000 Hirtennomaden, die hier leben. Das Erdgasfeld Bowanenkowo, das größte auf Jamal, liegt direkt auf dem Weg der Brigade 4. Um zu den Sommerweiden zu gelangen, muss die Herde das Feld mit seinen Straßen und Pipelines durchqueren. Die Nenzen wohnen ganz wörtlich am „Rand der Welt“ – das bedeutet Jamal in ihrer Sprache. Doch heute scheint es, dass sie auch gefährlich nah am Abgrund leben. 

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    “Die Nenzen sind eine der widerstandsfähigsten indigenen Volksgruppen in der Arktis.”

    Bruce Forbes, Professor für Geografie an der Universität Lappland

    Das Erdgas der Jamal-Halbinsel ist extrem wichtig für die russische Energiewirtschaft. Die neue Quelle wird die allmählich erschöpften Felder südlich und östlich von hier ersetzen. Betreiber ist Gazprom, das als staatliches Unternehmen den Großteil des russischen Erdgases fördert – und auch mehr als ein Drittel aller EU-Importe stellt. Laut Gazprom-CEO Alexei Miller könnten 2030 auf Jamal 360 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr gefördert werden – mehr als ein Drittel der prognostizierten russischen Gesamtproduktion. Bowanenkowo allein meldet Gasvorräte von fast fünf Billionen Kubikmetern. Die Siedlung ist mit dem Festland durch einen eigenen Flughafen und eine 570 Kilometer lange Bahnstrecke verbunden, zwei 1200 Kilometer lange Pipelines schließen es an das russische Ferngasnetz an. Von dieser Basis aus wird Gazprom weiter in die russische Arktis vorstoßen.

    Tag und Stunde, wann die Brigade 4 die meistbefahrene Straße durch Bowanenkowo zu überqueren hat, sind mit Gazprom abgesprochen. Zwei Tage lang haben sich die Nenzen den Weg durch ein Industrielabyrinth gebahnt, dann erreichen sie schließlich die Übergangsstelle. Riesige Lastwagen rollen über die betonierte Straße. Auf die andere Seite zu kommen ist gefährlich.

    „Die Absprachen haben viel Zeit und Mühe gekostet“, sagt Galina Mataras, Direktorin einer NGO, die die Hirten vertritt. Zur verabredeten Zeit wird der Verkehr gestoppt und eine lange Bahn aus weißem Geotextilstoff auf der Straße ausgerollt. Darauf können die Nenzen ihre Schlitten leichter über die Betondecke führen.

    „Das war’s!“, verkündet Njadma Chudi, als alle drüben sind. Keine Straßen und keine Pipelines mehr. „Jetzt müssen wir uns nicht mehr beeilen. Können die Zelte mal länger als eine Nacht stehen lassen. Und in Ruhe angeln gehen.“ Chudi erinnert sich noch gut, wie alles anfing: „Es war nicht einfach, als Gazprom hier losgelegt hat.“ Als die Baumaßnahmen in Bowanenkowo in den Achtzigern begannen, seien in den ersten Jahren überall Bahnlinien, Pipelines, Straßen, Sandgruben und Gebäude entstanden. „Wir hatten das Gefühl, wir sitzen in der Falle. So als gäbe es auf dem Grund und Boden unserer Vorväter keinen Platz mehr für uns“, sagt Njadma Chudi. „Andererseits verstehen wir natürlich, dass das Land Erdgas braucht“, räumt er ein. Als die größten Bauarbeiten beendet waren, hätten sie sich deshalb neue Routen und Umwege überlegt. „Wir kommen schon klar.“ Er hält inne. „Jedenfalls solange sie nicht noch mehr Straßen und Pipelines bauen.“ 

    Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 11/2017 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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