„Die Armen haben praktisch kaum Zugang zum Gesundheitssystem“

In Haiti verkaufen fliegende Händler Tabletten am Straßenrand. Was das mit dem Gesundheitssystem dort zu tun hat, erklärt die Nothilfe-Expertin Sigrid Kühlke.

Von Kathrin Fromm
Veröffentlicht am 22. Nov. 2017, 09:42 MEZ
Claudine Jourdain, 33, verkauft Medikamente auf den Straßen von Port-au-Prince.
Foto von Paolo Woods und Gabriele Galimberti

Wie würden Sie das Gesundheitssystem auf Haiti beschreiben?
Erst einmal vorweg: Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Mit Blick von außen müsste man eigentlich sagen, dass es kein Gesundheitssystem gibt. Wenn man optimistisch sein möchte, würde man es so formulieren: Es gibt ein Gesundheitssystem, aber es ist fast ausschließlich privat und kostet viel Geld. Der Staat ist weitgehend abwesend. 

Wohin gehen die Menschen dann zum Arzt?
Für die wohlhabenden Schichten gibt es Privatkliniken, auch von guter Qualität, oder sie reisen gleich in die USA, um sich behandeln zu lassen. Auch Kuba oder die Dominikanische Republik wären möglich, je nach Geldbeutel. Mit Kuba gibt es außerdem eine Art Abkommen. Ärzte aus Haiti können sich dort ausbilden lassen, andererseits leisten Kubaner auf Haiti einen medizinischen Dienst. Die kubanischen Ärzte haben einen guten Ruf. Wenn ein Ausländer auf Haiti krank wird, schickt man ihn zu einem dieser Ärzte. Aber auch bei ihnen kostet die Behandlung natürlich etwas. Die Schere zwischen Arm und Reich ist auf Haiti besonders groß und das spiegelt sich im Gesundheitssektor wider.

Was macht jemand, der kein Geld hat?
Für die armen Familien gibt es die staatlichen Gesundheitszentren. Offiziell werden dort immerhin vier Krankheiten kostenlos behandelt: Malaria, Aids, Tuberkulose und Syphilis. Das klingt erst mal sehr gut, aber effektiv klappt das nicht immer. Von dem vorhandenen Geld fürs Gesundheitssystem kommt in den Departements und Kommunen wenig an, da das System als korrupt gilt. In den Gesundheitszentren sieht es dann so aus, dass die Medikamente entweder doch Geld kosten oder schon abgelaufen sind, weil sie zulange im Zoll lagen. Wenn es überhaupt welche gibt. Bei allen anderen Krankheiten kosten die Behandlung und die Medikamente noch mal extra. Es gibt auch kirchliche Gesundheitszentren, zum Beispiel haben wir von der Caritas einen solchen Bau in Léogane mit 1,9 Millionen Euro unterstützt. Das Zentrum ist seit Frühjahr 2013 fertig und wird nun von der Diözese verwaltet. Aber auch hier kostet es etwas. Insgesamt kann man nur feststellen: Die Armen haben praktisch kaum Zugang zum Gesundheitssystem. So bleiben ihnen oft nur die traditionellen Heiler.

Deshalb kaufen viele Menschen ihre Tabletten auch bei fliegenden Händlern am Straßenrand?
Ja. Frauen und Männer tragen Körbe mit Tabletten auf dem Kopf oder haben Stände am Straßenrand, und jeder Kunde stellt seinen eigenen Cocktail zusammen, weil er vielleicht gehört hat, dass dies oder jenes einem gut tun soll. Das ist billiger als die offiziellen Medikamente – und genug Geld dafür hat die große Mehrheit der Bevölkerung nicht. Die Risiken sind den Menschen zumeist unbekannt. Häufig fehlt einfach das Wissen, etwa, dass man Antibiotika bis zum Ende einnehmen muss, damit sie wirken.

Welche Krankheit schätzen Sie als besonders bedrohlich auf Haiti ein?
Unterernährung. Das ist inzwischen eine anerkannte Krankheit, welche nicht nur lebensbedrohlich sein kann, sondern auch die intellektuelle Entwicklung der Kinder beeinträchtigt. Die Behandlung sollte auf jeden Fall kostenlos sein für Kinder unter fünf Jahren. Chronische Unterernährung ist ein Indiz für Armut. Die jüngste Erhebung aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass 23,5 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in Haiti zu klein für ihr Alter sind. Das kommt von schlechter und nicht ausreichender Ernährung, aber eben auch von regelmäßigen Krankheiten wie Durchfall.  Ab 30 Prozent schlägt die Weltgesundheitsorganisation Alarm.

Sigrid Kühlke ist Projektreferentin für Haiti bei Caritas international und besuchte den karibischen Inselstaat schon mehrfach.
Foto von Privat

2010 traf Haiti ein besonders schwerer Hurrikan, erst vergangenes Jahr fegte wieder einer über die Insel. Wie beeinflussen diese häufigen Naturkatastrophen die medizinische Versorgung?
Das ist immer ein Rückschlag, in jeder Hinsicht. Wir arbeiten viel mit der Caritas der Diözese im Departement Nippes zusammen. Nach dem Hurrikan im vergangenen Jahr waren einige Gemeinden teils einen Monat lang von der Außenwelt abgeschnitten. Die Bevölkerung war vollkommen auf sich allein gestellt. Nach und nach kamen dann über die internationale Nothilfe Lebensmittel und Medikamente per Hubschrauber. Mit so einer Notlage verbreiten sich auch schnell die Krankheiten, Cholera zum Beispiel. Aber dieses Mal gab es recht viel Material zur Prävention. Auch unser Partner von der Diözese hat Hygiene-Kits an alle Haushalte verteilt.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Das war ein Eimer mit verschiedenen Hygieneartikeln, also Seife und Chlortabletten zur Desinfektion des Trinkwassers. Dazu gab es Flyer mit erklärenden Zeichnungen und Fotos. Da ging es um die Grundbotschaften, zum Beispiel wie man sich richtig die Hände wäscht und warum das so wichtig ist. Offenbar waren diese Maßnahmen erfolgreich. Laut einem UN-Bericht aus dem September war der Anstieg der Cholerafälle 2017 nicht mehr so stark wie 2016. Das ist ein positives Zeichen.

Ein Fotoprojekt über Pillenhändler auf Haiti, aus dem auch das Motiv oben stammt, ist in der Ausgabe 11/2017 des National Geographic Magazins zu sehen. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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