Vom IS zu den Vereinten Nationen: Die Reise von Nadia Murad

Wie unzählige Jesidinnen wurde auch Nadia Murad vom IS entführt und versklavt. Sie entkam jedoch den Schrecken des Krieges und kämpft als UN-Sonderbotschafterin für Gerechtigkeit.

Von Romy Roynard
Veröffentlicht am 21. Jan. 2018, 09:00 MEZ
Interview mit Nadia Murad | Global Positive Forum

Anmerkung der Redaktion: Am 05.10.2018 wurde verkündet, dass der Friedensnobelpreis 2018 an Nadia Murad und den kongolesischen Menschenrechtsaktivisten Denis Mukwege für ihren Einsatz gegen sexuelle Gewalt in Kriegs- und Krisengebieten verliehen wird.

Nadia Murad ist eine schlanke, zierliche junge Frau. Sie hat eine sanfte Art an sich, ihre Stimme ist ruhig und beherrscht.

Wir treffen uns im September 2017. Die junge Frau ist gerade in Paris angekommen, um am Global Positive Forum teilzunehmen, einer internationalen Debatte, welche die positiven Initiativen hervorheben will, die unsere Welt zu einem besseren Ort machen könnten.

Ein Tontechniker bringt vorsichtig ein Lavalier-Mikrofon an ihrem Kleid an. Sie versichert ihm, dass das „in Ordnung“ ist und es ihr nichts ausmacht. Aber sie erschaudert, wenn sie berührt wird.

In ihrem Blick liegen die Narben eines unaussprechlichen Schreckens. Ihre dunkelbraunen Augen zeugen von einer geschädigten Kindheit, dem Schrecken des Krieges und der Gewalt, die der IS an ihrer Gemeinde verübt hat.

1993 wurde Nadia Murad als Kind einer armen Familie im Nordirak geboren. Sie gehört den Jesiden an, einer monotheistischen religiösen Minderheit, deren Glauben vermutlich auf die alten Religionen Mesopotamiens zurückgeht. Die Jesiden gehören zumeist der kurdischen Bevölkerung an. Im Laufe der Jahre hatten sie diverse Male unter Verfolgungen zu leiden und zählten zu den Opfern des Genozids von 1988, der von der autoritären Regierung Saddam Husseins veranlasst wurde. 

Die Familie Murad spricht Kurmandschi, das auch als Nördliches Kurdisch bezeichnet wird. Nadia Murad willigte ein, National Geographic ein Interview in dieser Sprache zu geben.

Im August 2014 griffen Dschihadisten des IS die Stadt Sindschar in der Provinz Ninawa an. Es ist die größte jesidische Stadt im Irak, die damals von der kurdischen Peschmerga verteidigt wurde. Nach dem Rückzug der Peschmerga in den Höhenzug Dschabal Sindschar waren die Zivilisten der Gnade der Dschihadisten ausgeliefert, die ihnen nur die Wahl ließen, zum Islam zu konvertieren oder zu sterben. Zwölf Tage lang versuchte ein Mullah vergebens, sie zum Konvertieren zu überreden, aber die meisten Jesiden weigerten sich.

Dann nahm der Schrecken seinen Lauf: Die Dorfbewohner wurden zusammengerufen; Frauen, Mädchen und Kinder wurden von den Männern getrennt. Nadia wurde gewaltsam zu einer Schule gebracht und musste machtlos mit ansehen, wie sechs ihrer Brüder ermordet wurden – erschossen oder enthauptet. 2.000 jesidische Männer wurden beim Massaker von Sindschar umgebracht.

Danach wurde Nadia Murad in das IS-Hauptquartier nach Mossul entführt und als Sexsklavin gehalten. Monatelang wurde sie täglich von mindestens einer Wache geschlagen und vergewaltigt. Als ihr letzter Herr sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollte, ging er hinaus, um ihr eine Abaya zu kaufen, ein traditionelles islamisches Gewand. Sie nutzte seine Abwesenheit, um in einem benachbarten Haus Unterschlupf zu suchen. Dort gab ihr eine irakische Sunniten-Familie einen islamischen Ausweis mit dem Namen eines Familienmitglieds und schmuggelte sie aus dem vom IS kontrollierten Gebiet bis zur kurdischen Grenze, wo sie ihren Bruder treffen konnte.

Während ihres Aufenthalts im Flüchtlingscamp von Rwanga kontaktierte Nadia eine jesidische Flüchtlingshilfeorganisation, über die sie im September 2015 von einem Flüchtlingsprogramm Baden-Württembergs profitieren konnte. Nadias Geschichte erregte auch die Aufmerksamkeit der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die sie seither vertritt.  Im Dezember 2015 sprach sie vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über den Menschenhandel und den gewaltsamen Konflikt in ihrer Heimat und beschuldigte den IS des Genozids.

Nadia Murad im Juli 2017.
Foto von Wikimédia Commons

Die junge Frau, die wir zwei Jahre später treffen, spricht über ernste Themen, aber auch über ihre Hoffnungen und Träume. Und sie spricht mit einer entwaffnenden Stärke. Sie beantwortet die Fragen von Susan Goldberg, der Chefredakteurin von National Geographic. Geduldig wartet sie darauf, dass ihre Antworten von Kurmandschi auf Englisch übersetzt werden.

Nadia erzählt von ihrem Leben unter dem IS, ihrer Flucht und ihrem derzeitigen Leben in Deutschland. Mittlerweile ist sie eine Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen und spricht über ihren Wunsch, eines Tages in den Irak zurückzukehren, und über ihren Traum, Maskenbildnerin zu werden.

Wenn ihre Blicke von der Gewalt und den Grausamkeiten zeugen, die sie erdulden musste, erinnert ihr Lächeln doch daran, dass Nadia Murad erst 24 Jahre alt ist. Ihr Kampf für die Gerechtigkeit für die jesidischen Opfer geht weit über ihre persönlichen Interessen hinaus. Sie kämpft nicht länger nur, um die Erinnerung an ihre Brüder, ihre Mutter, ihre Neffen und ihre Nichten zu ehren. Sie kämpft dafür, dass die Kriegsverbrechen des IS an der gesamten jesidischen Gemeinschaft anerkannt werden.

„Gerechtigkeit ist möglich.“

Das Interview ist vorbei. Nadia Murad verlässt den Raum und lässt uns mit einem ruhelosen, verwirrenden Gefühl zurück, als wäre die Dunkelheit der Welt plötzlich durch das Licht der Hoffnung ein wenig heller geworden.

Das Interview wurde von Susan Goldberg durchgeführt, der Chefredakteurin von National Geographic.

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