Ein Kopf mit Geschichte

Die Entdeckung eines antiken, bronzenen Pferdekopfes im hessischen Waldgirmes war 2009 eine archäologische Sensation. Der Kopf beweist erstmals die Existenz einer zivilen, römischen Siedlung in Germanien. 

Von Andrea Henke
Veröffentlicht am 7. Sept. 2018, 06:00 MESZ
Pferdekopf Waldgirmes
Schmuckstück: 2000 Jahre hat dieser Pferdekopf einer Reiterstatue von Kaiser Augustus in einem Brunnen überdauert. Nach der Restaurierung glänzen Bronze und Blattgold wieder.
Foto von Pavel Odvody, LandESAmt für Denkmalpflege Hessen, Hessen Archäologie

Ihr spektakulärer Fund des Pferdekopfes ist jetzt neun Jahre her – ist dieser Tag noch heute präsent?

Natürlich, so etwas vergisst man nicht. Wir hatten 2009 nur an einer einzigen festen Boden-Struktur – einem „Befund“, wie wir sagen – in der Siedlung Waldgirmes gegraben, nämlich an diesem Brunnen. Wir konnten uns großräumig herantasten, das Loch wurde tiefer und tiefer, schließlich zwölf Meter tief, wir gruben im Grundwasserbereich, die Pumpen liefen den ganzen Tag. In diesem Sommer regnete es sehr viel, der Brunnen war völlig zugeschwemmt, drum herum war Lehmboden und uralter Schutt der Lahn.

Wann merkten Sie: Jetzt kommt etwas Besonderes?

Ganz unten in diesem Brunnen stand ein Fass, typisch für diese Zeit. Man stellt unten ein Fass rein und baut oben drüber einen viereckigen Holzkasten. So versuchte man, Sediment aus dem Wasser herauszufiltern. Wir halbierten also das Fass – und plötzlich ragte zwischen Holzfragmenten und Mühlsteinen der Kopf heraus. Mein Kollege Armin Becker und ich haben damals mit zwei Studenten und Sozialhilfeempfängern, Spätaussiedlern aus Kasachstan gegraben. Die waren teils schon Jahre bei uns. Becker und ich hatten in Waldgirmes schon 15 Jahre gegraben. Wir waren eine lebhafte Truppe, aber in dem Moment wurde es ganz, ganz still.

Konnten Sie die Vergoldung des Kopfes erkennen?

Ja, Gold ist ein Edelmetall, das blinkt auch nach 2000 Jahren. Der Kopf lag zwar auch im Schlamm, aber dort, wo das Grundwasser herangekommen war, sah man das Gold.

Was haben Sie in diesem Moment getan?

Es war wirklich prickelnd, so spannend, dass wir uns regelrecht zwingen mussten, das alles vernünftig zu dokumentieren – jeder wollte natürlich gucken (lacht). Aber dann haben wir doch geputzt, fotografiert, eingemessen.

Um schließlich datieren zu können?

Genau. Der Brunnen selbst war mit Hölzern gebaut worden, die aus dem Herbst oder Winter des Jahres 4 auf 3 vor Christi Geburt datieren. Die jüngsten Hölzer, die den Brunnen verstopften, datieren in den Herbst/Winter 9 auf 10 n. Chr. Der Pferdekopf ist also mit den jüngeren Hölzern in den Brunnen gekommen. Diese Hölzer aber waren Leiterteile; wir wissen nicht, wann sie gefertigt wurden. Sicher ist, dass Kaiser Tiberius den Plan, rechts des Rheins eine Provinz aufzumachen, im Jahr 16/17 mit einem Erlass aufgegeben hatte. Letztendlich können wir sagen: Der Pferdekopf wurde zwischen 9 und 17 n. Chr. versenkt.

Die Varusschlacht 9 n. Chr., die den Rückzug der Römer aus Germanien einläutete, muss also nicht damit in Zusammenhang gestanden haben?

Bevor wir die Hölzer datierten, hatte ich immer gesagt, ich wünsche mir ein genaues, nicht überliefertes Jahr wie 13 n. Chr. und nicht auch 9 n. Chr, dann wäre noch klarer gewesen, dass die Versenkung nichts mit der Varusschlacht zu tun hatte. Aber wir konnten nachweisen, dass auch nach diesem Ereignis in der Stadt noch gebaut wurde. Vor allem haben wir auch in der restlichen Grabungsfläche keine Hinweise gefunden, dass diese Siedlung in einer kriegerischen Auseinandersetzung untergegangen ist. Sie wurde später planmäßig aufgegeben.

Es gab also eine zivile römische Siedlung in Germanien nach der Versenkung des Kopfes und nach der Varusschlacht?

Ja! Wenn damals Siedlungen aufgegeben wurden, hat man sie abgebrannt. Dabei entstand gebrannter Lehm, und davon haben wir keine Stücke im Brunnen gefunden. Aber die hölzernen Alltagsgegenstände, die wir bei dem Kopf fanden, waren sämtlich von Metallbeschlägen befreit. Man wollte also kaputte Dinge entsorgen, jedoch das wertvolle Metall wiederverwerten – das spricht nicht für das Aufgeben einer Siedlung. Es war eine gezielte Verstopfung dieses Brunnens, er sollte unbrauchbar gemacht werden. Keiner kam mehr ans Wasser, keiner mehr an die Mühlsteine, keiner an den Kopf. Das gehört in meinen Augen zusammen: Man hat in einer Siedlung eine Wasserquelle aufgegeben.

Warum wurden dem Kopf im Brunnen Mühlsteine hinterher geworfen?

Die Bewohner wollten ihn so wegpacken, dass nie wieder jemand dran kommen sollte. Sie wollten ihn aber nicht zerstören, dass wäre an der Oberfläche einfacher gewesen. Die Mühlsteine sind durch das sechs Meter hohe Grundwasser nur langsam nach unten gefallen.

Wer hat den Kopf versenkt?

Das können wir nicht sagen, wüssten es aber gern.

Die Ausgrabungen in Waldgirmes sind noch nicht abgeschlossen. Warum?

Es liegen noch Teile der Siedlung im Boden, das soll auch so bleiben. Wir leben in einer Zeit der technischen Revolution für die Archäologie, wir können ständig neue Techniken nutzen – auch ohne zu graben.

Zum Beispiel mit der Lidar-Technik, mit der dieses Jahr in Guatemala eine Maya-Metropole entdeckt wurde?

Ja. Man kann man mit dieser Lasertechnologie 3D-Modelle berechnen. Wir haben auch eine ganze Reihe von chemischen Methoden, mit denen wir Hinweise auf Ställe oder Müll bekommen. Das ist enorm hilfreich: Man macht geophysikalische Analysen und bohrt dann genau in die Befunde herein, die man auf dem Rechner identifiziert hat.

Was hat die rund einjährige Restaurierung des Kopfes für Erkenntnisse erbracht?

Er wurde nicht in einer großen Form gegossen, sondern die römischen Handwerker haben verschiedene Teilgussformen benutzt. Damit konnte eine große Statue mehrfach aus denselben Formen reproduziert werden. Man kann sich gut vorstellen, dass diese Formen mit den Handwerkern gewandert sind. Es gibt Berichte von Künstlern aus dem 17. Jahrhundert, die erzählen, wie lange es dauerte, bis man endlich die eine Gussform für die Reiterstatue Ludwigs XV fertig hatte. Die Technik unseres Fundes ist mindestens ebenso raffiniert – und der Kopf ist mehr als 1700 Jahre älter! Außerdem haben wir Hinweise gefunden, dass Dinge angefügt wurden – was mit Bronze durchaus machbar wäre. Experimentelle Gussversuche zeigen, dass einzelne Teile einer Bronze sehr gut aneinander angegossen werden konnten; das Gefüge wirkt wie angeschweißt. Das ist wirklich klasse, ganz große Handwerkskunst.

Allerdings haben sich im Boden von Waldgirmes keine Spuren im Boden erhalten, die darauf schließen lassen, dass die Statuen am Ort gegossen wurden.

Sie wirken immer noch begeistert.

Man findet solche Objekte wie den Pferdekopf eigentlich nie – auch weil Bronze ja immer wieder eingeschmolzen wurde. Die einzige komplett erhaltene Bronzestatue ist die von Marc Aurel aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus.

Und die ist künstlerisch nicht ganz so gut ausgearbeitet.

Das haben Sie gesagt.

Gabriele Rasbach von der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts leitete die Ausgrabungen zusammen mit ihrem Kollegen Armin Becker.

Lesen Sie mehr über den (fast) vergessenen Schatz der Römer in Ausgabe 9/2018 des National Geographic Magazins.

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