„Die DNA hat dort wie in einer Zeitkapsel überdauert“

Der Archäogenetiker Johannes Krause erklärt, wie sich aus alten Knochen neue Erkenntnisse für die Vorgeschichte ziehen lassen.

Von Kathrin Fromm
Veröffentlicht am 8. Aug. 2019, 16:09 MESZ
Archäogenetik
Die Archäogenetiker vom Max-Planck-Insitut für Menschheitsgeschichte untersuchen Jahrtausende alte Knochen. Im Felsenbein, einem Knochen im Innenohr, wird die DNA besonders gut konserviert.
Foto von Antje Wissgott

Herr Krause, Sie untersuchen die DNA von jahrtausendealten Knochen. Was finden Sie dabei heraus?

Die Genetik erlaubt es uns zum Beispiel, Verwandtschaftsanalysen durchzuführen. Das heißt, dass wir Individuen, aber auch ganze Populationen aus der Vergangenheit mit denen von heute vergleichen können und so sehen, ob es eine genetische Kontinuität gibt – also, ob es unsere Vorfahren sind oder eben nicht. Wir bestimmen auch, zu welchem Anteil eine Population unsere heutigen Gene prägt.

Wie sieht das in Deutschland aus?

Unsere direkten Vorfahren sind vor 40.000 Jahren in Europa eingewandert. Allgemein spricht man dabei vom modernen Menschen in Abgrenzung zum Neandertaler, von dem wir genetisch nur zwei Prozent in uns tragen. Diese Vorfahren lebten lange Zeit relativ autark. Erst so vor circa 7000 Jahre kam eine neue genetische Komponente hinzu: Menschen aus Anatolien, die den Ackerbau brachten. Von ihnen stammt die Hälfte der Gene in uns. Noch mal 2000 Jahre später gab es eine zweite große Einwanderungswelle. Menschen einer Steppenpopulation, die nördlich des Schwarzen Meers lebten, erreichten Mitteleuropa. Sie hatten gerade das Pferd domestiziert, Rad und Wagen entwickelt und waren deshalb sehr mobil. Es kam wieder zu einer Vermischung. Je nachdem, wo man heute in Europa lebt, trägt man einen unterschiedlich großen Anteil dieser drei Ursprungspopulationen in sich.

Was kann die Archäogenetik noch?

Mit unseren Analysen decken wir soziale Strukturen auf. Wir fragen uns: Wie waren Familien aufgebaut? War eine Gesellschaft monogam oder polygam, patriarchal oder matriarchal? Aktuell beschäftigen wir uns zum Beispiel mit dem Beginn der Bronzezeit in der Region um Augsburg. Dort gibt es einige Siedlungen mit Friedhöfen. Uns interessieren die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Individuen. Für manche Familien haben wir Stammbäume über fünf Generationen rekonstruiert. Verwandt waren ausschließlich die Männer. Die Söhne übernahmen offenbar die Bauernhöfe von Ihren Vätern. Es gab im Grunde keine weiblichen Nachkommen auf diesen Friedhöfen. Die Töchter scheinen den Hof verlassen zu haben, vermutlich heirateten sie. Vielleicht fanden sie ein Tal weiter ein Zuhause. Interessant war, dass sich manchmal auch mehrere Söhne einen Hof geteilt haben. Außerdem fanden wir Individuen, die mit niemand verwandt waren und wahrscheinlich einen weniger hohen Status hatten – bei ihnen fanden wir kaum Grabbeigaben wie etwa Bronzeschmuck. Vermutlich arbeiteten sie auf den Höfen mit, eine Art Gesinde. Das alles sind bahnbrechende Erkenntnisse! Bislang war man in der Archäologie nicht in der Lage, die sozialen Strukturen der prähistorischen Bevölkerung zu rekonstruieren.

Der Archäogenetiker Johannes Krause leitet das Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena.
Foto von Sven Döring

Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt auf Infektionskrankheiten. Was lässt sich aus den Epidemien der Vergangenheit lernen?

Uns geht es hauptsächlich um die Evolution der Krankheitserreger. Wir möchten verstehen: Wie haben sich Krankheitserreger entwickelt? Wie wurde zum Beispiel aus einem tierischen Krankheitserreger ein menschlicher Erreger? Wie ging dieser Prozess vonstatten und wie schnell war er, also die so genannte Mutationsrate, die Veränderung im Erbgut im Laufe der Zeit? Das konnte man bislang nur im Reagenzglas messen oder während einer aktuellen Epidemie, aber die Langzeitentwicklung ließ sich nicht nachvollziehen. Deshalb haben wir begonnen, die Krankheitserreger aus der Vergangenheit genetisch zu rekonstruieren. Wir haben aus alten Skeletten DNA-Schnipselchen von Krankheitserregern, an denen die Menschen einst gestorben sind, am Computer wieder zusammengesetzt. So lässt sich sehen, wie sich ein Erreger in den letzten Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden verändert hat. Da waren wir sehr erfolgreich. Wir konnten ein Pest-Genom aus der Vergangenheit rekonstruieren, ebenso Lepra, Typhus und Tuberkulose. Das ist nicht nur für Historiker interessant, sondern ebenso für Mediziner und Mikrobiologen.

Wie viele Knochen brauchen Sie für so eine Analyse?

Nicht viel. 30 bis 50 Milligramm, das ist ein bisschen mehr als ein Brotkrümel. Wenn es um Krankheitserreger geht, untersuchen wir hauptsächlich Backenzähne. Die sind stark durchblutet. In dem eingetrockneten Blut, das sich im Zahn noch findet, haben einige Erreger ihr Erbgut hinterlassen. Ansonsten versuchen wir ein Fragment des Innenohrs zu bekommen, das so genannte Felsenbein. Das ist ein sehr kompakter Knochen, der härteste im Körper, und er hat eine hohe Dichte. Deshalb ist die DNA darin gut enthalten. Das heißt: Aus diesem Knochen bekommt man mehr menschliches Genmaterial als aus anderen Teilen des Skelettes. Die DNA hat dort wie in einer Zeitkapsel überdauert.

Wie gehen Sie genau vor?

Normalerweise nehmen wir für die Proben Knochenpulver. Dafür bohren wir Löcher in das Felsenbein. Das Material wird aufgeschlossen – das heißt, dass die DNA in diesem Pulver freigesetzt und dann in einem molekular-genetischen Labor aufgearbeitet wird. Die Arbeit findet in so genannten Reinsträumen statt, um die wenige DNA nicht zu verschmutzen. Das kann schon durch einzelne Hautschuppen oder auch nur den Atem passieren. Die DNA kommt anschließend in ein Sequenzierlabor. Da sind Maschinen, die die DNA-Fragmente auslesen können und den Code der DNA entschlüsseln. Meistens sind die Fragmente sehr kurz, sie haben im Schnitt nur so circa 50 Basenpaare. Ein Chromosom hat im Vergleich dazu bis zu 200 Millionen Basenpaare. Die DNA in den Knochen hat sich im Laufe der Zeit sehr stark zersetzt. Danach kommt sehr viel Bioinformatik. Die einzelnen DNA-Fragmente werden am Computer wieder zusammengesetzt. So kann man ein Genom – einen Bauplan einer Person, eines Tier oder eines Krankheitserregers – aus der Vergangenheit rekonstruieren.

BELIEBT

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    Die Arbeit mit dem Knochenpuder findet in so genannten Reinsträumen statt, um die DNA nicht zu verschmutzen.
    Foto von Guido Brandt

    Wo kommt die Methode an ihre Grenzen?

    Einmal gibt es eine zeitliche Begrenzung. Es muss kühl und trocken sein, damit sich DNA lange hält. Am Äquator etwa ist die älteste DNA, die entschlüsselt wurde, nur circa 3000 bis 4000 Jahre alt. Die älteste menschliche DNA ist so ungefähr 300.000 Jahre alt. Sie stammt von der iberischen Halbinsel, also aus einer gemäßigteren Zone. Das älteste bisher untersuchte Genom stammt von einem Pferd aus Alaska und ist fast 800.000 Jahre alt. So eine Zeitdauer ist nur im Permafrost zu schaffen. Daneben gibt es weitere Faktoren, zum Beispiel: In was für einem Bodenmilieu lagern die Knochen, eher basisch oder eher sauer? Auch Bakterien- oder Pilzkulturen, die an der Zersetzung der Leichen beteiligt sind, machen uns die Arbeit schwer. Deswegen ist das kompakte Felsenbein besser, weil es weniger Kontamination von außen aufnimmt.

    Ist die Archäogenetik vor allem für die Ur- und Frühgeschichte interessant?

    Ein Großteil unserer Projekte sind in der Vorgeschichte angesiedelt, weil es wenig Informationen aus dieser Zeit gibt. Wir wissen beispielsweise sehr viel über das Römische Reich aus historischen Quellen. Ich könnte keinen großen Beitrag leisten, indem ich die DNA irgendeines römischen Senators untersuche. Man weiß genau, wo der geboren ist, wen der geheiratet hat, und was aus seinen Söhnen wurde. Aber auch aus dieser Zeit gibt es ungeklärte Fragen für die Archäogenetik, etwa zur Völkerwanderung oder dem genetischen Beitrag, den die vielen römischen Sklaven in Italien hinterließen.

    Wie hat die DNA-Analyse die Archäologie verändert?

    Es ist eine neue Quelle dazugekommen. So konnten verschiedene Hypothesen, bestätigt oder auch verworfen werden. Etwa die Frage nach dem Beginn des Ackerbaus im Neolithikum. Lange Zeit waren sich die Forscher uneins darüber, ob damals Menschen mit dem Ackerbau nach Europa kamen. Wir können jetzt sagen: Es waren Einwanderer aus Anatolien, die den Ackerbau hierherbrachten. Ihr genetischer Beitrag zu den ersten Ackerbauern Europas lag bei über 95 Prozent. Wir liefern quantitative Daten für große kulturelle Umbrüche, ein genetisches Gerüst der Geschichte. Warum das alles passiert ist, müssen wir dann zusammen mit den Archäologen, Historikern und Anthropologen klären.

    Wo kann die Archäogenetik in Zukunft helfen, offene Fragen zu klären?

    Es gibt noch viele Lücken. Wir sind in den vergangenen Jahren sehr aktiv in Europa gewesen. Wir arbeiten zwar aktuell an 150 Projekten auf allen Kontinenten, aber Afrika ist noch fast komplett Neuland. Wir wissen sehr wenig über die dortige genetische Geschichte. Leider gibt es dazu auch keine so tiefen historischen Quellen, gerade südlich der Sahara. Teilweise lässt sich durch die Archäogenetik überhaupt erst etwas über die Geschichte der Menschen aus präkolonialer Zeit erzählen. Wir haben allerdings das Problem, dass die Bedingungen für den Erhalt der DNA in Afrika nicht optimal sind. Aber für die letzten 10.000 Jahre bin ich optimistisch, dass wir Einiges rekonstruieren können. Afrika hat schließlich die größte genetische Vielfalt auf der Welt und ist die Wiege aller heutigen Menschen.

    Mehr dazu: Die Titelgeschichte "Die ersten Europäer" steht in der Ausgabe 8/2019 des National Geographic-Magazins.

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