Gemüse-Genossen: Das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft

Genial gedacht: Simon Scholl und Daniel Überall machen mit dem „Kartoffelkombinat“ Städter zu Selbstversorgern.

Von Julia Graven
Veröffentlicht am 15. Juni 2020, 11:25 MESZ
Solidarische Landwirtschaft

Bei der solidarischen Landwirtschaft geht es nicht um Massenproduktion und maximalen Gewinn, sondern um gute Lebensmittel und regionale, saisonale und biologische Produkte.

Foto von Peter Wendt, Unsplash.com

Daniel Überall blickt an den Gewächshäusern vorbei zu den angrenzenden Feldern. Hier dominieren Monokulturen von Getreide, Mais oder Rüben. Auf dem Acker des „Kartoffelkombinats“ im Münchner Westen dagegen blüht die Vielfalt: Unter Vlies wachsen auf einem Streifen Mairübchen, daneben einige Reihen Fenchel, die Kartoffeln sind gelegt, auch der erste Freilandsalat wagt sich in die Sonne.

Gute Lebensmittel statt Massenprodukte

Es geht Überall nicht um Massenproduktion und maximalen Gewinn, sondern um gute Lebensmittel, Produkte, die sie in der Region „saisonal, biologisch und solidarisch“ anbauen. Was gerade reif ist, teilen sie wöchentlich unter den Mitgliedern auf. Das Konzept ist schon älter. In Zeiten der Krise erlebt die kollektive Selbstversorgung einen neuen Frühling. Im Unterschied zur Ökokiste sind Lebensmittel hier aber nicht nur Ware, es geht auch um klimafreundliches Wirtschaften. „Für uns ist das ganz klar ein politisches Projekt“, sagt Überall. Jedes Mitglied zahlt gut 900 Euro im Jahr und erhält dafür seinen Anteil an der Ernte. Das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft lasse Landwirte ohne Risiko und ohne Preisdruck planen. In Deutschland gibt es etwa 140 derartige Projekte. Für Familien, die ihr Gemüse zuvor im Laden gekauft haben, kann der saisonale Speiseplan eine echte Herausforderung sein. Dass Tomaten nur im Hochsommer wachsen, hatten sie bisher nur geahnt. In den letzten Wintermonaten braucht es viel kulinarische Phantasie für all die Sellerieknollen, Rote Beten und Kartoffeln. Umso größer ist die Freude, wenn im Frühjahr die ersten jungen Möhren in der Kiste liegen.

Bauern mit Gemeinsinn: Simon Scholl (l.) und Daniel Überall sehen das Kartoffelkombinat als Blaupause, die die Gesellschaft überall verändern kann. In München will Genossenschaftsvorstand Überall weiter wachsen. „In zehn Jahren könnten wir zusammen mit vielen Partnern zehn Prozent der Münchner Haushalte versorgen“, sagt er.

Foto von Hans-Rudolf Schulz

Gemüse-Genossenschaft

Die zwei Gründer Daniel Überall und Simon Scholl starteten 2012 mit 40 Mitgliedern, die Genossenschaftsanteile zeichneten. Zu Beginn kauften sie das Gemüse bei Biobauern in der Umgebung ein. Von Landwirtschaft hatten sie keine Ahnung; Überall war Marketingexperte, Scholl Betriebswirt. Nun fingen sie an, sich mit Anbauplänen, Saatgutbörsen und Käfern im Salat zu beschäftigen – und mit der Suche nach einem eigenen Betrieb. Sie mussten lernen, dass der Bauer sein Land nicht einfach so verkauft, erst recht nicht an Weltverbesserer aus der Stadt. Nach langer Suche fand die Genossenschaft 2016 eine ehemalige Baumschule und wandelte sie zur Gärtnerei um. Sieben Hektar Land gehören jetzt dem Kartoffelkombinat, elf sind dazugepachtet. 32 Mitarbeiter versorgen 1800 Haushalte wöchentlich mit Gemüse.

Corona-Krise: Keine Lieferschwierigkeiten

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass ihr Konzept aufgeht: „Wir hatten keinerlei Engpässe oder Lieferschwierigkeiten“, sagt Überall. Auch die zunächst ausbleibenden osteuropäischen Erntehelfer hätten die Genossenschaft nicht getroffen, sie arbeite mit Festangestellten, die das ganze Jahr über fair bezahlt würden. Dass eine verlässliche Versorgung mit guten Lebensmitteln in den letzten Wochen ein großes Thema geworden ist, merkt Überall an vielen Anfragen für neue Mitgliedschaften.

Keine Zutaten aus dem Ausland

Sein Traum wäre eine klimafreundliche Produktion, die Menschen direkt versorgt. Dazu gehören Gemüse, Brot und verarbeitete Lebensmittel, die selbst im Biosektor meist Zutaten aus China enthalten. Am liebsten würde Überall viele neue Betriebe ins Boot holen. Er drängt auf Wachstum, denn die Zeit laufe davon. Schon bald, sagt er, wird der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten sein. Dort, wo das Grundstück an das Maisfeld des Nachbarn stößt, bringen drei Gärtner in Holzfällerhemden getrocknetes Kleegras auf einem Beet aus, damit weniger Wasser verdunstet. Kräftiger Wind bläst das Heu über das Feld. Es sei viel zu trocken, sagt Überall besorgt. Wie letztes Jahr. Und vorletztes Jahr.

 

Der Artikel wurde ursprünglich in der Juni 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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