Was geschah in Tunguska?

1908 erschütterte eine gigantische Explosion, um ein Vielfaches stärker als die Hiroshima-Bombe, die sibirische Taiga. Auch heute stellt das „Tunguska-Ereignis“ die Forscher vor Rätsel. War es ein Asteroiden-Einschlag, ein Komet oder etwas ganz anderes?

Von Markus Röck
Veröffentlicht am 12. Okt. 2021, 09:49 MESZ
Originalaufnahme der Verwüstung: das Waldgebiet in der sibirischen Taiga ist völlig zerstört

In einem Umkreis von mehr als 2.000 km2 knickte die Tunguska-Explosion Bäume um wie Streichhölzer.

Foto von Yevgeny Krinov, Vokrug Sveta gemeinfrei

Es war der 30. Juni 1908. An der „Steinigen Tunguska“, einem Fluss in der sibirischen Taiga, war gerade erst ein neuer Morgen angebrochen. Es sollte ein Tag wie jeder anderer werden. Doch plötzlich ein lauter Knall, ein grelles Licht. Kurz darauf eine Druckwelle, die die Temperatur dramatisch ansteigen ließ und reihum Bäume knickte, als wären sie Streichhölzer. In der 65 Kilometer von der Explosionsstelle entfernten Handelssiedlung Wanawara wurden Türen und Fenster eingedrückt. Sogar in mehr als 500 Kilometern Entfernung nahmen Augenzeugen die Explosion noch deutlich wahr – ebenso wie Seismografen auf der ganzen Welt, die die Erschütterung aufzeichneten.

Die Steinige Tunguska in Sibirien.

Foto von okyela, Stock.adobe.com

Als „Tunguska-Ereignis“ ging die Explosion in die Geschichte ein. Mit einer vermuteten Sprengkraft zwischen drei und 30 Megatonnen TNT war sie um ein Vielfaches stärker als die Hiroshima-Bombe und verwüstete ein Gebiet mit einer Fläche von mehr als 2.000 km2. Doch was genau war 1908 am Tunguska-Fluss passiert? Diese Frage beschäftigt auch heute noch Wissenschaftler auf der ganzen Welt. So auch den Astrophysiker Prof. Alan Harris. „Die Datenlage ist spärlich und es ist nicht einfach, daraus Schlüsse zu ziehen. Aber es muss etwas sehr Dramatisches passiert sein“, so Harris im Gespräch mit NATIONAL GEOGRAPHIC.

Ein Asteroid?

Seit mehr als 30 Jahren erforscht der Brite Asteroiden. Mitunter berät er auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Asteroidenfragen. Wie viele andere Forscher auch hält er es für denkbar, dass ein eben solcher Himmelskörper die Tunguska-Explosion ausgelöst haben könnte. „Wenn ein solches Objekt mit hoher Geschwindigkeit in die Atmosphäre eintritt, baut das Druck auf“, sagt Harris. Mit dem steigenden Druck erhöhe sich die Temperatur. Gipfeln würde der Eintritt in einer massiven Explosion mit enormen Auswirkungen auf die Erdoberfläche. „Das könnte zu all den Phänomenen führen, die Augenzeugen damals beschrieben haben“, sagt Harris.

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    Seit mehr als 30 Jahren erforscht Prof. Alan Harris Asteroiden.

    Foto von Alan Harris

    Ganz ohne Widersprüche ist die Asteroidenhypothese allerdings nicht. Vor allem die fehlenden Spuren am Ort der Explosion stellen die Forscher vor Rätsel. Etwa 50 Meter Durchmesser müsse ein Asteroid laut Harris haben, um eine Explosion in der Größenordnung von Tunguska auszulösen. „Ein Objekt dieser Größe sollte Fragmente im Boden hinterlassen und einen Krater formen“, sagt Harris. Gefunden wurde im Tunguska-Gebiet bisher aber nichts davon.

    Kometen und andere Hypothesen

    Andere Erklärungsversuche gehen daher von einem Kometen aus, der 1908 in die Erdatmosphäre eingetreten und in einigen Kilometern über der Erdoberfläche explodiert sein könnte. Im Gegensatz zu Asteroiden, die in den meisten Fällen aus Gestein und Metallen bestehen, ist die Zusammensetzung von Kometen oft eine Mischung aus Eis, festem Kohlenstoffdioxid und Staub. „Ein Komet hat eine schwächere Struktur als ein Asteroid und würde schon sehr früh nach seinem Eintritt in die Erdatmosphäre bersten“, sagt Harris. Dies sei zwar eine Erklärung für den fehlenden Krater – widerspräche aber auch Augenzeugenberichten, dass sich die Spuren der Tunguska-Explosion noch hunderte von Kilometern ausbreiteten. „Ein Komet würde nicht so lange halten“, sagt Astrophysiker Harris.

    Dabei muss es sich bei der Ursache für die Tunguska-Explosion nicht einmal um einen Himmelskörper gehandelt haben. Mehrere Wissenschaftler, darunter auch der deutsche Astrophysiker Wolfgang Kundt, vertreten die These, dass es sich bei dem Tunguska-Ereignis um einen vulkanähnlichen Ausbruch von Erdgas gehandelt haben könnte. In einem 2001 in der Zeitschrift „Current Science“ veröffentlichten Paper schreibt Kundt, dass die Explosion von mehr als 10 Millionen Tonnen Erdgas verursacht wurde, das aus einem unterirdischen Lager über Risse im Boden in die Atmosphäre strömte. Harris will auch diese Theorie nicht ausschließen. „Zum aktuellen Zeitpunkt sprechen aber die meisten Indizien immer noch für den Einschlag eines Asteroiden“, so der Astrophysiker.

    Nur auf Durchreise

    Doch warum gab es keinen Krater? In einer 2020 im Fachblatt „Monthly Notices of the Royal Astronomic Society“ veröffentlichten Erklärung wollen russische Forscher vom Kirensky-Institut für Physik in Krasnojarsk die Antwort gefunden haben. Demnach könnte der Tunguska-Asteroid in einem sehr flachen Winkel in die Atmosphäre eingetreten sein und diese anschließend wieder verlassen haben. „Man kann sich das wie einen Kieselstein vorstellen, den man über das Wasser hüpfen lässt“, sagt Harris. Der Asteroidenforscher hält die Hypothese der russischen Forscher für möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Der Studie zufolge sei nur ein Eisenasteroid widerstandsfähig genug, um die Atmosphäre zu durchqueren, ohne zu bersten. „Das Problem an der Idee ist, dass metallische Asteroiden sehr selten sind.“ Nur drei bis fünf Prozent aller derzeit bekannten Asteroiden würden über die nötige Materialzusammensetzung verfügen, um für ein solches Ereignis in Frage zu kommen.

    Eine weitere mögliche Erklärung für das Fehlen eines Kraters hat Dr. Thomas Müller, Forscher am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching. Für Müller, der sich in seiner Arbeit mit den physikalischen Eigenschaften von Asteroiden befasst, ist insbesondere die Zusammensetzung des potenziellen Tunguska-Asteroiden von Bedeutung. So hätten kürzlich Weltraummissionen der NASA und der japanischen Weltraumbehörde JAXA zu Asteroiden gezeigt, dass diese oftmals nur eine lose Ansammlung von porösem Gesteinsmaterial seien. „Wenn das Material sehr porös ist, würde beim Eintritt in die Atmosphäre nicht ein einziges größeres Bruchstück herunterkommen. Das Objekt würde sich mehr oder weniger pulverisieren“, sagt Müller zu NATIONAL GEOGRAPHIC.

    Dass die Asteroidenhypothese auch ohne Krater funktionieren kann, scheint zumindest denkbar. Für Alan Harris gibt es noch ein weiteres Argument, das gegen andere Erklärungsversuche wie einen Gasausbruch spricht. „In meinen Augen müsste sich so etwas irgendwann irgendwo noch einmal ereignen. Wir wissen aber weder von einem früheren Ereignis, noch ist so etwas in den letzten 113 Jahren noch einmal passiert“, sagt er.

    Hat sich Tunguska wiederholt?

    Was sehr wohl in diesem Zeitraum passiert ist, ist ein weiteres Eintrittsereignis, das durchaus Parallelen zu Tunguska aufweist. Ebenfalls in Sibirien, genauer gesagt über der Stadt Tscheljabinsk, explodierte im Jahr 2013 ein Meteor, der zuvor in die Erdatmosphäre eingetreten war. „Es war ein kleineres Objekt als in Tunguska, aber mit sehr ähnlichen Effekten und Phänomenen“, sagt Harris. Auch in Tscheljabinsk gab es einen Lichtblitz, einen lauten Knall und eine Druckwelle. Allerdings in einem viel kleineren Ausmaß als in Tunguska. Im Gegensatz zur Explosion 1908 wurden diesmal auch Meteoritenstücke entdeckt. Mit einem Durchmesser von rund 20 Metern war der Tscheljabinsk-Meteor zwar bei weitem nicht so groß wie ein hypothetischer Tunguska-Asteroid. Dennoch wurden infolge der Explosion 1.500 Menschen verletzt und mehr als 7.000 Gebäude beschädigt.

    Ein Meteoriten-Fundstück von Tscheljabinsk.

    Foto von Björn Wylezich, Stock.adobe.com

    Ob die Tunguska-Explosion wie Tscheljabinsk von einem Himmelskörper verursacht wurde, wird wohl auch weiterhin umstritten bleiben. „Dass sich so etwas noch einmal ereignet hat, ist für mich aber ein sehr überzeugendes Argument“, sagt Alan Harris. Und auch wenn sich die Ursache für Tunguska weiterhin nicht vollständig aufklären lässt, haben beide Ereignisse zu einer großen Erkenntnis geführt: „Tunguska und Tscheljabinsk haben uns gezeigt, dass solche Objekte die Erde treffen und dabei enorme Schäden anrichten können.“ In Zukunft gehe es also nicht mehr alleine darum, die Ursache eines Einschlages zu studieren – man müsse auch Maßnahmen treffen, um solche Einschläge zu verhindern.

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