Meteoriteneinschlag: Geheimnisse des Sonnensystems auf der Schafweide

In Großbritannien wurde ein enorm seltenes Weltraumgestein geborgen. Sein Inneres kann Aufschluss darüber geben, wie die Erde ihr Wasser bekam und vielleicht sogar wie das Leben hier begann.

Von Robin George Andrews
Veröffentlicht am 18. März 2021, 12:13 MEZ
Meteoritenfragment

Ein Meteoritenfragment, das kürzlich in einer Einfahrt im englischen Winchcombe gefunden wurde. Der Meteorit ist eine seltene und alte Art, die als Kohliger Chondrit bezeichnet wird. Seine Zusammensetzung könnte Wissenschaftlern helfen, mehr über die frühe Geschichte des Sonnensystems herauszufinden.

Foto von Trustees of the Natural History Museum, London

In der Nacht des 28. Februar 2021 fiel ein Felssplitter vom Himmel und ließ die Atmosphäre über England aufleuchten. Der eindrucksvolle Feuerball wurde von einem internationalen Netzwerk von Meteoritenbeobachtungskameras eingefangen, und Wissenschaftler wurden sogleich in die verschlafene Stadt Winchcombe entsandt. Ein Brocken des Meteoriten wurde auf einer Einfahrt gefunden, ein weiterer auf einem Feld voller Schafdung.

Bisher wurden etwa 500 Gramm Weltraumgestein gefunden, die zur vorläufigen Analyse allesamt umgehend an einige wenige wissenschaftliche Einrichtungen – vor allem das Natural History Museum in London –geliefert wurden. Der schnelle Transport der Proben in die Labore war entscheidend: Nur so ließ sich sicherstellen, dass die irdische Umwelt die Chemie dieser nahezu unberührten Materialien aus dem Weltraum nicht wesentlich verändert.

Es stellte sich heraus, dass der Meteorit – der erste, der seit 30 Jahren in Großbritannien gefunden wurde – ein seltener kohliger Chondrit ist. Diese uralten Fragmente enthalten nicht nur die Bausteine für Planeten, sondern auch Verbindungen, die erklären könnten, wie die Erde zu ihrem Wasser kam. Sie könnten sogar Hinweise darauf liefern, wie das Leben selbst entstanden ist.

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„Das ist eine fast schon magische Art von Meteorit, die viele Menschen völlig fasziniert“, sagt Katherine Joy, Meteoritenexpertin an der Universität Manchester.

Seltsamerweise scheinen sich die Chemie, die Mineralien und die Texturen des Meteoriten auf den ersten Blick keiner bestimmten Art von kohligen Chondriten zuordnen zu lassen. Jedes der bisher untersuchten Fragmente scheint ein wenig anders zu sein als die anderen.

„Könnte es ein neuer Meteoritentyp sein, eine neue Meteoritenklasse, etwas, das wir noch nie gesehen haben?“, fragt Luke Daly, Meteoritenexperte an der Universität Glasgow. Es ist eine faszinierende Möglichkeit, aber es sind noch weitere Forschungen nötig, um das zu beurteilen.

Die wissenschaftliche Arbeit an dem Objekt, das wahrscheinlich als der Winchcombe-Meteorit bekannt werden wird, hat gerade erst begonnen. Aber seine Seltenheit und die Geschwindigkeit, mit der er geborgen wurde, hat in der Gemeinschaft der Meteoritenforscher für eine Menge Aufregung gesorgt.

„Wir sind alle durchgedreht“, sagt Sara Russell, Planetenforscherin am Natural History Museum in London. „Für unsere Meteoritengruppe ist es die wichtigste Akquisition, die wir je hatten, würde ich sagen.“

Nur wenige Meteoriten werden gefunden

Meteoriten schlagen immer wieder auf der Erde ein, aber die meisten sind nicht groß genug, um ihre Ankunft mit einem Feuerball anzukündigen. Selbst wenn sie es tun, stürzen viele einfach in die Ozeane. Die überwiegende Mehrheit der gesammelten Meteoriten wird in Wüsten gefunden, insbesondere in der kalten Eiswüste der Antarktis. Dort lagern Eisströme die Weltraumtrümmer wie Förderbänder in bestimmten Bereichen ab, und inmitten der weißen Farbtöne des Kontinents stechen schwarze Meteoriten leicht hervor.

Das Vereinigte Königreich ist vergleichsweise klein, sodass Meteoriten nicht oft dort einschlagen. Außerdem ist es voller Städte und Vegetation, was den Fund von Meteoriten erschwert. Aber ab und zu passiert es eben doch, dass Weltraumgestein zufällig direkt vor der Nase eines überraschten Finders landet. An Heiligabend 1964 prallte ein Meteorit „von einer Einfahrt ab, flog durch ein Fenster und landete unter jemandes Weihnachtsbaum“, sagt Matthew Genge, ein Meteoritenexperte am Imperial College London.

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    In den letzten Jahren haben die Meteoritenjäger in Großbritannien ihre Chancen allerdings verbessert, indem sie Kameras aufstellten. Mit deren Hilfe suchen sie den Nachthimmel nach Feuerbällen ab, um herauszufinden, wo die Fragmente auf die Erde fallen. In den letzten zehn Jahren wurden sechs verschiedene Kameranetzwerke von Amateur- als auch von professionellen Forschern in die U.K. Fireball Alliance integriert.

    Diese Kameras sind „unablässig auf den Himmel gerichtet“, zeichnen ununterbrochen auf und halten Ausschau nach auffälligen Blitzen oder Objekten, die über den Himmel streifen, sagt Jim Rowe, der Organisator der Gruppe. Während der Pandemie schrieb er einen Computercode, der sicherstellte, dass diese einzelnen Netzwerke miteinander kommunizieren können, um alle von oben herabfallenden Objekte zu verfolgen.

    Das System hat in den letzten fünf Jahren gelegentlich Feuerkugeln entdeckt, aber die Einschlagstellen eigneten sich nicht für eine Suche nach den Objekten. Vor ein paar Jahren „gab es eine Feuerkugel, deren Meteorit direkt in die Nordsee fiel“, sagt Daly. Das Objekt schrammte an den umliegenden Landmassen Großbritanniens, Nordeuropas und Norwegens vorbei, wo man es hätte bergen können.

    Spurensuche in Winchcombe

    Ende Februar, nach Jahren des Beobachtens und Wartens, fingen die Kameras eine sechs Sekunden dauernde Feuerkugel ein, die Meteoritenfragmente über Gloucestershire verteilte, eine Grafschaft im Südwesten Englands. Die Flugbahn wurde sofort von einem internationalen Forscherteam analysiert, das mit der U.K. Fireball Alliance zusammenarbeitet. So wurde die wahrscheinliche Einschlagszone bestimmt, und Experten aus ganz England kamen in die Stadt Winchcombe und die umliegende Region.

    Nach ein paar Tagen der Suche benachrichtigten die Wissenschaftler die lokale Presse und baten die Öffentlichkeit, ihnen bei der Suche nach seltsam aussehenden Gesteinsfragmenten zu helfen. Menschen aus dem ganzen Land schickten den Experten unzählige Fotos von möglichen Fragmenten.

    Eine Familie fand nach dem Aufwachen schwarze Gesteinsfragmente und rußartige Spritzer auf ihrer Einfahrt. Nachdem sie von Berichten über eine Feuerkugel gehört hatten, wurde ihnen schnell klar, dass es sich bei den Trümmern um Meteoriten handelte, und sie kontaktierten das U.K. Meteor Observation Network. Nur zwölf Stunden nach dem Einschlag war ein großes Bruchstück des Meteoriten bereits eingetütet und wartete darauf, von den Experten eingesammelt zu werden.

    „Was für eine großzügige Sache – zu erkennen, wie wichtig das für die Wissenschaft ist, und dazu beitragen zu wollen“, sagt Joy.

    Daly und seine Freundin Mira Ihasz schlossen sich einer Gruppe an, die ein nahegelegenes Feld durchkämmte, das mit Schafskot übersät war. Wenn Weltraumgestein durch die Erdatmosphäre streift, schmilzt das Material zunächst und bildet dann eine schwarze, harte Hülle aus. Und die dunklen Farbtöne des Schafkots ähnelten unpraktischerweise der verbrannten Kruste von Meteoriten.

    „Wir nannten sie bald ‚ein weiteres vielversprechendes Häufchen‘“, sagt Daly. Aber nach fünf Tagen der Suche stieß Ihasz auf den Meteoriten.

    Das Fragment wurde 400 Meter von der Stelle entfernt gefunden, an der es laut dem Modell hätten landen sollen. Es ist ein bemerkenswerter Grad an Genauigkeit, aber nicht präzise genug für die Modellierer, die laut Daly etwas enttäuscht waren, dass ihre Vorhersage nicht exakter war.

    Empfindliches Gestein

    Vorläufige Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Meteoriten um einen kohligen Chondriten handelt: Gesteinsobjekte, die so alt wie das Sonnensystem und nach ihrer kohlenstoffreichen Zusammensetzung benannt sind. Solche Weltraumgesteine sind selten. Von den 65.209 katalogisierten Meteoriten sind nur 2.639 kohlige Chondrite.

    Die genaue Herkunft der meisten Meteoriten bleibt ein Rätsel. Aber dank der gut dokumentierten erdgebundenen Flugbahn des Winchcombe-Meteoriten konnte er zum äußeren Rand des Asteroidengürtels zwischen Mars und Jupiter zurückverfolgt werden.

    „Zu wissen, woher dieses Ding kommt und was es ist, ist etwas ganz Besonderes“, sagt Joy. Dieses Wissen macht es einfacher, herauszufinden, von welcher Art Asteroid der Meteorit abgebrochen ist. Und es hilft den Wissenschaftlern auch, besser zu verstehen, wodurch solche Weltraumtrümmer in Richtung Erde gelenkt werden.

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    Der Winchcombe-Meteorit weist Merkmale mehrerer Arten kohliger Chondriten auf, was bedeutet, dass es sich um etwas völlig Neues handeln könnte. In der ersten chemischen Analyse wurde er jedoch als CM-Typ eingestuft. Diese Meteoriten enthalten (unter anderem) reichlich wasserhaltige Mineralien.

    „Das sind von Anfang an ziemliche Schlammbälle“, sagt Genge vom Imperial College London. Nur 652 von ihnen wurden jemals gefunden.

    Im Vergleich zu den meisten anderen Arten von Meteoriten sind CM-Chondrite „unglaublich empfindlich“, so Daly. Die Mineralien im Inneren zersetzen sich in der feuchten Erdatmosphäre schnell, sodass „diese Dinger einfach zu Staub werden“, wenn sie den Elementen länger ausgesetzt sind.

    „Der Umstand, dass er so empfindlich ist, aber auch so schnell eingesammelt wurde, war entscheidend“, sagt Joy. „Dieses Exemplar war innerhalb von 36 bis 48 Stunden nach dem Fall verpackt und zurück im Museum, was nicht sehr oft vorkommt.“ Die schnelle Bergung bedeutet, dass seine Bestandteile nahezu perfekt erhalten sind – und sie werden viel über das frühe Sonnensystem und den lebendigen Planeten, auf dem wir heute leben, zu erzählen haben.

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    Ein Geheimnis, das in Gesteinen wie dem Winchcombe-Meteoriten verborgen ist, hat damit zu tun, wie die Erde zu solch großen Mengen an Wasser kam. Der gigantische Einschlag auf unserem Planeten, der vor etwa 4,5 Milliarden Jahren zur Entstehung des Mondes führte, hat wahrscheinlich einen Großteil des Wassers aus den frühen Tagen der Erde verdampft und ins All geschleudert.

    Ob das Oberflächenwasser, das wir heute haben, größtenteils aus dem Inneren des Planeten stammt und durch Vulkanausbrüche entwichen ist, oder ob es vor allem durch eishaltige Asteroiden geliefert wurde, ist umstritten. Durch die Untersuchung der hydratisierten Minerale in kohligen Chondriten könnten wir laut Russell herausfinden, welcher Prozess die Ozeane unserer modernen Welt gefüllt hat.

    CM-Chondrite enthalten in der Regel auch viele verschiedene organische Moleküle, darunter Aminosäuren und Zucker. Das dürfte auch beim aktuellen Meteoriten nicht anders sein. Asteroiden, die die frühe Erde bombardierten, hätten diese organische Materie mitgebracht und vielleicht sogar jene Materialien dagelassen, die für die Bildung der ersten lebenden Organismen notwendig waren.

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    „Diese organische Chemie könnte durchaus die Entstehung des Lebens auf der Erde beschleunigt haben“, sagt Genge.

    Meteoriten können uns auch etwas über die Zeit vor der Entstehung der Erde erzählen. Der Winchcombe-Meteorit enthält Bestandteile, die als Calcium-Aluminium-reiche Einschlüsse (CAIs) bekannt sind. „Sie sind die ältesten Festkörper im Sonnensystem, was natürlich ziemlich erstaunlich und cool ist“, sagt Russell.

    Die chemische Zusammensetzung der CAIs deutet darauf hin, dass sie alle zur gleichen Zeit und am gleichen Ort entstanden sind, nämlich vor 4,56 Milliarden Jahren, in direkter Näher zur Sonne. Erst später wurden sie in Gesteinsmaterial eingeschlossen, das in den kalten Nischen des äußeren Sonnensystems verklumpte. Die dramatische Reise dieses Materials nach weit draußen ist nicht leicht zu erklären. Aber das Sammeln weiterer CAIs kann dazu beitragen, die Frage zu beantworten, wie sich die Materie bewegte und vermischte, als sich die Planeten bildeten und das Sonnensystem langsam seine heutige Form annahm.

    CM-Chondrite enthalten auch oft Substanzen wie Graphit und Diamantkörner, die bemerkenswerterweise älter sind als das Sonnensystem selbst. Ihre Chemie unterscheidet sich extrem von allem, was in unserem Sonnensystem zu finden ist. Daher glauben Wissenschaftler, sie stammen aus den Atmosphären von Riesensternen oder bildeten sich in Supernovae-Explosionen, bevor sie in unsere sich noch bildende kosmische Nachbarschaft drifteten.

    Solche Körner wurden „ins Universum hinausgeschleudert, schwebten hunderte von Millionen Jahren umher und flogen dann wieder nach innen, um unser Sonnensystem zu bilden“, sagt Genge. Auch wenn diese primordialen Steine noch nicht im Winchcombe-Meteoriten entdeckt wurden, gehen die Wissenschaftler fest davon aus, dass er – wie auch andere CM-Chondrite – Fragmente enthält, die älter als unser Sonnensystem sind.

    Der Winchcombe-Meteorit könnte daher nicht nur Hinweise auf die Geschichte unserer Nachbarschaft enthalten, sondern auch die Geister anderer Planetensysteme, die nicht mehr existieren – und die internationalen Bemühungen, seine vielen Geheimnisse zu entschlüsseln, haben gerade erst begonnen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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