Von LGB bis LGBTQIA+: Der Identität einen Namen geben

Unterschiedliche Sexualitäten und Geschlechter gab es in der Menschheitsgeschichte schon immer. Doch bis eine Bezeichnung für sie gefunden war, dauerte es teilweise Jahrhunderte – und der Kampf um Akzeptanz ist noch lange nicht zu Ende.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 28. Okt. 2021, 13:40 MESZ
In den Neunzigerjahren begannen lesbische, schwule und bisexuelle Aktivisten, das Akronym LGB als übergeordnete Bezeichnung für ...

In den Neunzigerjahren begannen lesbische, schwule und bisexuelle Aktivisten, das Akronym LGB als übergeordnete Bezeichnung für ihre Gemeinschaft zu verwenden. Seitdem ist diese Abkürzung ständig erweitert worden, um die Zugehörigkeit anderer Gruppen zu der Gemeinschaft deutlich zu machen. Mit unermüdlichem Aktivismus, wie hier bei einer Pride-Parade in Boston im Jahr 1975, kämpfen die Menschen der Community weiterhin für mehr Akzeptanz und ihre Rechte weltweit.

Foto von Spencer Grant, Getty Images

Sprache ist ein mächtiges Werkzeug. Nicht nur die Fähigkeit zur Kommunikation ist eine tragende Säule unserer Gesellschaft: Auch die Frage, welche Worte wir wählen, um einen Menschen oder eine Gruppe zu benennen, ist von weitreichender Bedeutung. Ein allgemein gültiger Name für eine Gemeinschaft kann Wertschätzung ausdrücken oder sie verunglimpfen – und auch das vollständige Fehlen einer Bezeichnung sagt viel über den Status einer bestimmten Gruppe von Menschen aus.

Aufgrund zahlreicher Schnittmengen, die sich lesbische, schwule und bisexuelle Gemeinschaften im Alltag und ihrem Aktivismus in der Freiheits- und Bürgerrechtsbewegung teilten, etablierte sich in den Neunzigerjahren als übergeordnete Bezeichnung das Akronym LBG: lesbian, gay, bisexual.

Auch im deutschen Sprachraum ist die Abkürzung, die weltweit weiterhin einem ständigen Wandel unterliegt, geläufig. Das Verstehen und Sichtbarmachen unterschiedlicher Identitäten – lesbisch, schwul, bisexuell, intersexuell, queer, trans –  ist ein laufender Prozess, der dazu führt, dass das Akronym immer wieder erweitert wird: Aus LGB wurde erst LGBT, dann LGBTQ und schließlich LGBTQIA+.

Das zeigt, wie sich die Gesellschaft immer weiter entwickelt – und wie schwierig es ist, Menschen mit all ihren Unterschieden und individuellen Merkmalen in Kategorien einzuordnen. Zwar ist die Evolution dieses Begriffs noch in vollem Gange, ein historischer Blick auf das, was bisher geschah, um ihn zu formen, ist aber dennoch schon heute wichtig.

Von Lesbos zu lesbisch

Der erste Buchstabe der Abkürzung ist der aus historischer Sicht älteste: Schon seit Jahrhunderten wird das Wort „lesbisch“ eng mit der antiken griechischen Dichterin Sappho verbunden, einer der wichtigsten Lyrikerinnen des Altertums, die im 6. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde. Sie lebte und arbeitete auf der Insel Lesbos in der Nordägäis, wo sie einen Kreis von Schülerinnen um sich sammelte, die sie in den musischen Fächern unterrichtete. Die Schönheit der Frauen in ihrem Leben war häufig Gegenstand ihrer eigenen Werke, ebenso wie die erotische Liebe. Aus Interpretationen ihrer Lieder im 15. Jahrhundert stammen die Begriffe „lesbische” oder auch „sapphische” Liebe als Bezeichnung für gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen.

Eine erste Erwähnung des Begriffs in Zusammenhang mit Homosexualität findet sich im 17. Jahrhundert. In seiner heutigen Bedeutung tauchte das Wort „lesbisch“ erstmals im späten 19. Jahrhundert in einem englischsprachigen Medizinlexikon auf, ebenso in verschiedenen anderen Publikationen aus der Zeit, die sich mit Psychologie und Sexualität befassen. Mit der Zeit nahm der Begriff an Bekanntheit zu und schließlich wurde er auch von den Frauen angenommen, die zunächst im Geheimen und schließlich ganz offen andere Frauen liebten.

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Gay: Zurückeroberung eines Begriffs

In den späten Sechzigerjahren begannen Aktivisten im englischsprachigen Raum den über die Jahrzehnte zum Schimpfwort verkommenen Begriff „gay“ als Beschreibung für Homosexuelle wieder für sich zu beanspruchen. Im 20. Jahrhundert waren gleichgeschlechtliche Liebe und sexuelle Aktivitäten größtenteils per Gesetz verboten. Jemanden „gay“ zu nennen, war eine Beleidigung, mit der man Zugehörige dieser Gruppe abwertete. Trotzdem war es dieser Begriff, den die meisten jungen Männer wählten, um sich gegen den Status-quo zu stellen und der offenen Liebe zueinander einen Namen zu geben.

Im Laufe der Zeit entwickelten sich in der englischen Sprache weitere Bezeichnungen für gleichgeschlechtlich Liebende: Von „deviant“ – abweichend – bis hin zu „homophil“, was so viel heißt wie „gleichliebend“ und die liebevolle Beziehung zwischen Menschen desselben Geschlechts in den Mittelpunkt stellen soll. Laut dem Soziologen J. Todd Ormsbee gaben diese Bezeichnungen „Individuen die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen, das, was sie jeden Tag als Homosexuelle in einer homophoben Umgebung erleben, besser zu verstehen“.

Dem Schriftsteller Edmund White zufolge setzte sich aber spätestens mit den Achtzigerjahren das Wort „gay“ als Bezeichnung für Männer, die Männer lieben, gegen andere Begriffe durch. Den Grund sieht er darin, dass „gay“ „eine der wenigen Bezeichnungen ist, die sich nicht explizit auf sexuelle Aktivitäten bezieht“.

Auch im deutschen Sprachgebrauch hat das Wort inzwischen als Alternative zu der Bezeichnung „schwul“ Einzug gehalten, die nur selten als Beschreibung für gleichgeschlechtlich liebende Frauen genutzt wird. Im Gegensatz ist mit „gay“ jede Person gemeint, die sich zum selben Geschlecht hingezogen fühlt oder deren Art zu lieben nicht dem entspricht, was gemeinhin als Norm betrachtet wird.

Die Schöpfung des Begriffs „Homosexualität“

Der Erste, der versuchte, einen Namen für Menschen zu finden, die sich zum selben Geschlecht hingezogen fühlten, war Karl Heinrich Ulrichs: Ein deutscher Jurist, der im 19. Jahrhundert lebte und als Vorkämpfer für die Rechte von Homosexuellen gilt. Das Wort „homosexuell“ existierte zu seiner Zeit noch nicht und so sprach er stattdessen in Anlehnung an die Göttin Aphrodite Urania vom „Uranismus” und „urnischer Liebe”. „Wir Urningen stehen für eine spezielle Art des menschlichen Geschlechts”, schrieb er. „Wir sind ein eigenes, drittes Geschlecht.“

Der österreichisch-ungarische Journalist Karoly Maria Kertbeny prägte im späten 19. Jahrhundert die Begriffe „Homosexualität“ und „Bisexualität“ und gab damit endlich einer ganzen Generation von Menschen die bisher fehlenden Worte, um sich selbst zu beschreiben.

Foto von Alamy

Der Begriff wurde jedoch bald durch ein neues Wort abgelöst, dass auf den österreichisch-ungarischen Journalisten Karoly Maria Kertbeny zurückgeht.

Im Jahr 1869 wollte die preußische Regierung das Verbot gleichgeschlechtlicher Aktivitäten zwischen Männern fest in der Verfassung zu verankern. In einem leidenschaftlichen offenen Brief, den er anonym an den preußischen Minister verfasste, bezeichnete Kertbeny das vorgeschlagene Gesetz als „erschreckenden Unsinn“ und verwendete außerdem das Wort „Homosexualität“, das er zuvor bereits in privaten Briefen an Karl Heinrich Ulrichs eingestreut hatte. Er ist ebenso der Schöpfer der Begriffe „heterosexuell”, das Menschen beschreibt, die sich zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen, und „bisexuell“, mit dem Menschen gemeint sind, die sich zu jedem Geschlecht hingezogen fühlen können.

Kertbeny betont in seinem Brief an den Minister, dass die Liebe zum gleichen Geschlecht angeboren sei, und widersprach der vorherrschenden Meinung, sie sei etwas Beschämendes oder sogar Ungesundes. Seine Wortkreationen wurden sowohl von der frühen Schwulenrechtsbewegung als auch Ärzten auf dem damals schnell wachsenden Feld der Psychologie übernommen.

LGBT: „Transgender” kommt dazu

Obwohl trans Menschen zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte existiert haben, wurde erst in den Sechzigerjahren eine feste Bezeichnung gefunden: Die erste Erwähnung findet sich in einem psychologischen Fachbuch aus dem Jahr 1965. Außerdem wurde der Begriff durch die Aktivistin Virginia Prince publik gemacht, die die heute gängige Ansicht vertrat, dass das körperliche und soziale Geschlecht zwei voneinander zu trennende Aspekte seien. Der Begriff „transgender“ ersetzte andere erniedrigende Bezeichnungen, die bis dahin verwendet wurden und fand in den Zweitausenderjahren weite Verbreitung.

Bis heute sind trans Menschen überproportional von diskriminierender Gewalt betroffen, auch innerhalb der LGBTQIA+ Community. Auf der ganzen Welt wird weiterhin darum gekämpft, die soziale und gesetzliche Situation von trans Menschen zu verbessern. In Deutschland geschieht dies beispielsweise durch Bemühungen zur Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes.

Erst in den Zweitausenderjahren wurden trans Menschen als Teil der LGBT-Community anerkannt – und der Kampf geht weiter. In diesem Bild aus dem Oktober 2019 versperren Demonstrierende die Straße vor dem Obersten Gerichtshofs in Washington, D.C., während darüber entschieden wird, ob das Gesetz gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund des Geschlechts auch Schwule und trans Menschen miteinschließt. Die Entscheidung fiel schließlich in ihrem Sinne.

Foto von Caroline Brehman, CQ-Roll Call / Getty Images

Was ist „queer”?

Das Wort „queer” ist mindestens seit dem frühen 20. Jahrhundert in Benutzung. Dabei handelte es sich zunächst ebenfalls um einen herabwertend verwendeten Begriff, mit dem Menschen aus der heteronormativen Gesellschaft ausgegrenzt wurden. In den Neunzigerjahren fand er jedoch zunehmend bei Mitgliedern der Schwulenbewegung Anklang. Dem Linguisten Gregory Cole nach kann der Begriff heute, je nachdem, wer ihn benutzt, entweder eine abwertende oder wertschätzende Bedeutung haben. Sprachwissenschaftler sind der Meinung, dass das Wort inzwischen von denen zurückerobert wurde, gegen die es ursprünglich negativ verwendet wurde.

LGBTQIA+: Die Entwicklung geht weiter

Die neuesten Ergänzungen des Akronyms haben somit zum Ziel, eine größere Bandbreite der Gemeinschaft zu repräsentieren. Das Pluszeichen ist eine Art Platzhalter für weitere Geschlechteridentitäten, das „I“ repräsentiert intersexuelle und das „A“ asexuelle und aromantische Menschen.

Kritiker sagen, dass kein Begriff jemals das gesamte Spektrum aller geschlechtlichen und sexuellen Ausdrucksformen abbilden könne. Verschiedene akademische und Regierungsorganisationen haben deswegen inzwischen die Bezeichnung „geschlechtliche und sexuelle Minderheiten“ für sich entdeckt, von der sie sich eine umfassendere Inklusion erhoffen.

Dennoch gilt: Begriffe, mit denen geschlechtliche und sexuelle Identitäten beschrieben werden können, sind wichtig, um Diskriminierung zu benennen und der eigenen Identität einen Namen zu geben. Die ständige Weiterentwicklung dieser Bezeichnungen ist ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft in ihrer Akzeptanz ebenfalls immer im Wandel befindet.

„Kein Wort ist zu hundert Prozent treffend oder inklusiv“, heißt es in einem Bericht des Engineering and Medicine-Komitees der National Academies of Science aus dem Jahr 2020. „Das Schöne an der Individualität ist, auf wie vielfältige Weise sie – ebenso wie persönliche und romantische Beziehungen – zum Ausdruck kommen kann.“

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