„Gesellschaftliche Werte ändert man nicht so leicht“

Sie dreht Spielfilme in einem Land, in dem es über 35 Jahre keine Kinos gab: Haifaa Al Mansour ist die erste weibliche Regisseurin Saudi-Arabiens. Ein Gespräch über Frauenrechte, Diskriminierung in Hollywood und Stereotypen im Nahen Osten.

Von Daniel Lerche
Veröffentlicht am 24. Aug. 2020, 16:17 MESZ

Die saudi-arabische Regisseurin Haifaa Al Mansour wurde 1974 in Al Zulfi geboren. 

Foto von Brigitte Lacombe

Eigentlich war das Filmemachen für sie am Anfang eine Art Selbstfindung: Als Haifaa Al Mansour nach dem College bei einer Ölfirma anheuerte, suchte sie in ihrer Freizeit nach Zerstreuung, nach einem Weg, sich selbst auszudrücken. „Als Frau war man sehr unsichtbar in dieser Zeit“, sagt die heute 46-Jährige über ihre Heimat. Ihr erster Kurzfilm landete direkt auf einem Film-Festival und Al Mansour fühlte sich plötzlich lebendig. „Ich habe das erste Mal gespürt, wie es ist, eine Stimme zu haben. Aber ich dachte nie, dass ich wirklich Filmemacherin werden würde.“ 

Trotzdem machte Haifaa Al Mansour weiter. Mit großem Erfolg: Ihr Film „Das Mädchen Wadjda“ (2012) gilt als erster Spielfilm aus Saudi-Arabien überhaupt und gewann weltweit Preise. In diesem Frühjahr erschien ihr jüngstes Werk, der politische Feelgood-Film „Die perfekte Kandidatin“, in dem eine junge Frau in die Politik gehen will. Wir erreichen Haifaa Al Mansour am Telefon in ihrer Wahlheimat Los Angeles.

Frau Al Mansour, in ihren Filmen beschäftigen Sie sich mit der Rolle der Frauen in Saudi-Arabien. Wie lebt es sich dort heute als Frau?

Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren sehr verbessert. Frauen dürfen heute alleine reisen, Auto fahren, Unternehmen gründen, in Restaurants gemeinsam mit Männern essen. Sie haben viel mehr soziale Freiheiten als noch vor wenigen Jahren. Auch am Arbeitsplatz sind die Geschlechter nicht mehr getrennt. Natürlich ist Saudi-Arabien ein konservatives Land, und viele Frauen zögern noch, diese Freiheiten zu nutzen, oder wollen das sogar gar nicht.

Wie kommt das?

Ich denke, viele muslimische Frauen haben Angst davor, ihren Status als „gute Frau“ zu verlieren, wenn sie ihr Verhalten ändern und mit Traditionen brechen. Deshalb wollen sie nicht allein reisen, nicht fernab von ihren Familien arbeiten. Wenn sie die Wahl haben zwischen einem Job und der Ehe, entscheiden sie sich nach wie vor oft für die Ehe. Dass das nicht immer die richtige Entscheidung ist, und dass sie einfach sie selbst sein müssen, darauf müssen sie alleine kommen – und das braucht Zeit.

Es gibt in Saudi-Arabien auch Männer, die sich durch die Reformen angegriffen fühlen, die Angst haben, ihren Status Quo zu verlieren.

Wie begegnen Sie denen?

Na ja, kommen Sie, das gibt es ja auch hier in Hollywood, dass Männer sagen: Du hast diesen Job nur bekommen, weil aktuell weibliche Filmemacher gefragt sind. Und ein mittelalter weißer Mann kommt ans Set und wird immer respektiert, egal, ob er etwas kann oder nicht. Ich muss mir den Respekt an jedem Set immer erst verdienen in den ersten Tagen. Auch hier braucht es Zeit, bis sich die Werte der Menschen ändern. Aber ich denke, wir sind aktuell auf dem richtigen Weg. Aber zu Ihrer Frage: Ich denke, dass es für alle von Vorteil ist, wenn beide Geschlechter zusammenarbeiten. Sonst ist es ja auch langweilig. Und junge Menschen wollen sich treffen, in einer diversen Umgebung arbeiten, mit beiden Geschlechtern.

Es braucht nur eine Frau, um eine Generation zu inspirieren!
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Sie leben halb in Kalifornien, halb in Saudi-Arabien, unterschiedlicher könnten Kulturen kaum sein. In Saudi-Arabien gibt es nach wie vor viele Einschränkungen für Frauen. Fühlen Sie sich in ihrer alten Heimat diskriminiert?

Diskriminiert würde ich nicht sagen. In der arabischen Welt halten viele Menschen sehr stark an alten Werten fest, und die Werte einer Gesellschaft verändert man nicht so schnell. Das sieht man auch an manchen, die das Land verlassen und nach Europa oder in die USA emigrieren: Sie leben in demokratischen Ländern, die liberal sind, einige behandeln ihre Frauen aber, wie es immer schon üblich war. Die Umgebung wandelt sich, die Werte bleiben die alten. Und genau das müssen wir verändern.

Wie verändert man die Werte einer Gesellschaft?

Ich als Künstlerin denke, dass die Kunst dafür ein großartiges Werkzeug ist: Mit Musik, Film, Bildern, Literatur und Gedichten erreicht man die Menschen im Herzen. Und damit öffnen sie sich. Der Zugang zu Kunst von überall auf der Welt wird viel ändern.

Sie versuchen das mit Filmen. Wo genau sehen Sie ihre Chancen mitzuwirken?

Ich habe zum Beispiel in „Die perfekte Kandidatin“ den Vater der Protagonistin ganz anders inszeniert, als man es von einem arabischen Vater gewohnt ist. Er hat keine Angst vor Frauen, er liebt seine Tochter und will sie fördern. Er ist weich, hat keine Angst, in der Öffentlichkeit zu weinen. Wenn wir diese neuen Männerbilder feiern, kreieren wir neue Vorbilder, in denen sich die Männer wiederfinden können, und sehen, dass sie für diese Qualitäten bewundert und geliebt werden. Wir selbst müssen dieses stereotype Bild des arabischen Mannes mit großem Schnurrbart, der seine Männlichkeit darüber ausmacht, dass er seine Frau im Zaum hält, ändern.

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Kronprinz Mohammed bin Salman ist der Mann hinter den Reformen in Saudi-Arabien. Auf der einen Seite gilt er als Modernisierer, auf der anderen als Tyrann. Was für ein Typ Mann ist er?

Ich bin Künstlerin, keine Politikerin, die über andere Politiker spricht. Ich kann nur sagen, dass mein Leben als Frau in Saudi-Arabien heute sehr viel positiver ist als noch vor ein paar Jahren. Das Land ist komplex. Gerade wenn es darum geht, Reformen anzustoßen wie die, dass Frauen Autofahren dürfen, ist das kein leichter Job. Saudi-Arabien ist nicht Europa, sondern ein Ort mit vielen Ideologien. Man muss die Komplexität des Nahen Ostens verstehen: Überall gibt es Unruhen, Nachbarn, die mit ihren Nachbarländern nicht glücklich sind. Aber die Grundstimmung ändert sich. Die Menschen wollen keine Terroristen sein, sich nicht selbst umbringen. Und das ist großartig: Man will nicht, dass Saudi-Arabien der Ort ist, an dem Terrorismus aufkeimt. Die Menschen wollen Filmemacher sein, Mädchen wollen Schauspielerinnen werden. Und die Modernisierung dieses Landes, das eines der konservativsten auf dieser Erde ist, strahlt hoffentlich auch auf andere muslimische Länder wie Pakistan ab.

Haben Sie manchmal Angst, dass Frauen in Saudi-Arabien von der Regierung instrumentalisiert werden?

Nein. Ich denke, es liegt jetzt auch an den Frauen, die Möglichkeiten, die das Land jetzt auftut, schlau zu nutzen. Es gibt zum Beispiel viele Stipendien für Frauen, die im Ausland studieren wollen. Meine Eltern mussten damals ein Stück Land verkaufen, damit ich überhaupt an die Uni konnte. Meine Nichten studieren heute in den USA, England, Polen und Frankreich, und das auf Kosten der Regierung. Man muss also sehen, was man aus den Möglichkeiten rausholt, und selbst brechen mit den Erwartungen der konservativen Kultur.

Brechen Sie Tabus mit Ihren Filmen?

Ich versuche es. Aber ich bin nicht der Typ, der mit lauten Tabubrüchen vorankommen will. Ich versuche, leise zu dekonstruieren, die Traditionen Schritt für Schritt zu brechen. Ich denke, das ist wichtig, denn um wirklich etwas zu bewirken, muss man konstant und lange arbeiten. Eine Veränderung in einem Land kommt ja nicht, weil Menschen in den Nachrichten von neuen Werten hören. Sie kommt von innen, aus den Menschen heraus, weil sie daran glauben.

Welche Auswirkungen haben die Lockerungen im Land auf Ihre Arbeit?

Große. Als ich „Wadjda“ gedreht habe, musste ich von einem Van aus Regie führen: Aus dem Transporter raus habe ich mit allen per Walkie-Talkie kommuniziert, da ich nicht einfach auf der Straße mit Männern hätte sprechen dürfen. Knapp acht Jahre später, bei den Dreharbeiten zu meinem neuen Film, war ich ganz normal am Set. Wenn eine konservative Person kam und uns belästigte, konnten wir einfach die Polizei rufen. Die prüfte unsere Genehmigung – und wenn die Person immer noch Ärger machte, nahmen sie sie mit.

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Sie sagen, beim Filmemachen spürten Sie zum ersten Mal, dass Sie eine Stimme hatten. Wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen mit tollen Eltern. Sie haben mir niemals gesagt: Du bist ein Mädchen, das kannst du nicht machen. Das unterschied mich von vielen anderen Mädchen. Erst als ich in die Schule kam, wurde ich damit konfrontiert, dass man als Frau besser nicht zu viel sagt, dass man am Ende verheiratet wird und dass die Ehe das große Ziel sein sollte im Leben einer Frau.

Sie haben elf Geschwister – durften Ihre Brüder mehr als Sie?

Nein, es hat meine Familie nicht interessiert, ob ich auf der Straße mit Jungs spiele. Meine Schwestern sind Ärztinnen, sie gehen ohne Kopftuch zur Arbeit. Mein Vater hat das nie kritisiert. Ich wollte Raumfahrerin werden. Mein Vater sagte darauf nur: ‚Dann musst du gut in Mathe sein.‘ Sehr optimistisch, denn für ein junges Mädchen aus Saudi-Arabien liegen die Chancen, jemals mit einem Raumschiff ins All zu fliegen, fast bei Null. Aber er hat mir das nie gesagt, immer nur: Wenn du hart arbeitest, kannst du alles schaffen. Später, als ich arbeitete, habe ich gesehen, dass das leider oft nicht stimmt. Alle Männer wurden immer wieder befördert. Die Frauen nicht, egal wie hart sie gearbeitet haben.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft von Saudi-Arabien?

Ich denke, wir alle wünschen uns Wohlstand. Und ich hoffe ehrlich, dass Frauen das Beste aus der Situation machen, dass mehr Frauen in die Politik oder Kunst gehen und Führungspositionen besetzen. Ich wünsche mir eine neue Mittelklasse, die Frauen nicht nur als Mütter sieht, sondern auch als ökonomische Kräfte und als Partnerinnen. Wir sind auf einem guten Weg, denke ich: Der saudi-arabische Botschaftsposten in den USA ist heute von einer Frau besetzt – zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes.

Interesse geweckt? Haifaa Al Mansour war zu Gast bei unserem Podcast Explore. In der Folge "Saudi-Arabien: Von Kultur und Wandel" könnt ihr mehr über Regisseurin und ihr Heimatland erfahren.  

 

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