Kommen die ältesten Mumien der Welt aus Europa?

In Portugal könnten bereits vor 8000 Jahren Leichen gelenkt mumifiziert worden sein, sagt eine neue Studie aus Schweden. Damit wäre die Praxis der Mumifizierung deutlich älter als bisher angenommen.

Verringerung des Weichteilvolumens während der geführten natürlichen Mumifizierung. Links: Fleischiger Körper an Tag 1 des Versuchs, der mit Hilfe von Bandagen so stark wie möglich gebeugt wurde, um die Körperposition zu halten. Mitte: Verringertes Körpervolumen und zunehmende Beugung des Körpers nach drei Wochen, bedingt durch das Austrocknen der Weichteile und das wiederholte Anziehen der Bandagen. Rechts: weiter reduziertes Körpervolumen nach sieben Monaten, bedingt durch fortgesetzte Austrocknung der Weichteile. Die Binden wurden nach drei Wochen nicht weiter angezogen. (Computersimulation)

Foto von Cambridge University Press, Uppsala University, Sweden
Von Deborah Roth
Veröffentlicht am 9. März 2022, 08:45 MEZ

Erstaunlich hyperflexibel und unversehrt waren die Überreste von dreizehn Leichnamen, die 1960 und 1962 bei ersten Ausgrabungsarbeiten in den mesolithischen Muschelhügeln von Portugal gefunden wurden. Der spektakuläre Fund, der damals auch fotografisch festgehalten wurde, wurde nun von einem schwedischen Forscherteam von der Universität Uppsala neu untersucht.

Die kürzlich wiederentdeckten Fotografien der Mumien, die vor 8000 Jahren im portugiesischen Sado-Tal bestattet wurden, kommen einem archäologischen Puzzlestück gleich, das bisher unbekannte Einblicke in mesolithische Bestattungsrituale offenbart und neue Erkenntnisse über die Nutzung der Bestattungsräume zu dieser Zeit ermöglicht.

Einige Leichen wurden laut neuesten Erkenntnissen vor der Bestattung mumifiziert. Das ist nicht nur eine für Europa eher ungewöhnliche Praxis, die womöglich auch den Transport der Toten vereinfachen sollte. Es bedeutet auch, dass die Leichname womöglich die bislang ältesten bekannten künstlichen Mumien der Welt sind, nicht wie bisher gedacht die etwa 7000 Jahre alten Mumien der Chinchorro-Kultur.

Platzsparende und konservierte Mumien

Bei einigen der 8000 Jahre alten Skelette konnten die Forscher Anzeichen entdecken, die auf eine sowohl gelenkte als auch natürliche Mumifizierung zurückzuführen ist. Das bedeutet, dass die Körper über eine längere Zeitspanne hinweg ausgetrocknet wurden, was dem ‚natürlichen Vorgang’ einer Mumifizierung entspricht. Zusätzlich wurden die Leichname überraschenderweise mit Bändern oder Bandagen in einer Art hockenden Position fixiert, was wiederum für eine gelenkte Mumifizierung spricht.

Die Veränderung des Aussehens des Leichnams durch die Mumifizierung war nach Angaben der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein fundamentaler und essentieller Teil des kulturellen Verständnisses vom Umgang mit dem Tod – und vielleicht sogar von dessen Kontrolle. Die Wissenschaftler gehen darüber hinaus davon aus, dass die Individuen durch diese Praxis platzsparender transportiert werden sollten, da sie durch die Mumifizierung an Gewicht und Umfang verloren und anschließend anatomisch intakt beerdigt werden konnten.

Das Archiv-Foto von 1960 zeigt zwei Steinobjekte in dem Grab, die nie beschrieben wurden und bisher nur auf einer Zeichnung im Nationalen Museum für Archäologie in Lissabon dokumentiert sind. Die Zeichnung scheint angefertigt worden zu sein, nachdem der runde Stein, der die rot gefärbten Steine bedeckt, entfernt worden war, wie oben links auf der Zeichnung vermerkt: pedras côr avermelhada (rötlich gefärbte Steine).

Foto von Poças de S. Bento 1960, skeleton VII-A, Cambridge University Press

Eine Leiche mit vier Ecken

Die Überführung der Toten ist nach Angaben der Studie zudem ein kostspieliges Unterfangen gewesen; eine Mumifizierung vor dem Transport konnte somit die Reise erleichtern.  Daher wird hier sowohl die Bedeutung von Körpern als auch die Bedeutung von Bestattungsorten im mesolithischen Südwestportugal neu ausgeleuchtet.

In Vale de Romeiras, im portugiesischen Sado-Valley, wurden die Leichen häufig zusammengedrückt und in stark gebeugten Positionen aufgebahrt. Hier fanden die Forscher einen relativ einzigartigen Fall vor: ein Skelett war zu einem sozusagen zu einem Quadrat zusammengefaltet worden. Bei der Ausgrabung nahm das gebündelte Skelett eine kleine Fläche von 49 × 32 cm ein.

Verringerung des Weichteilvolumens während der geführten natürlichen Mumifizierung. Links: Fleischiger Körper an Tag 1 des Versuchs, der mit Hilfe von Bandagen so stark wie möglich gebeugt wurde, um die Körperposition zu halten. Mitte: Verringertes Körpervolumen und zunehmende Beugung des Körpers nach drei Wochen, bedingt durch das Austrocknen der Weichteile und das wiederholte Anziehen der Bandagen. Rechts: weiter reduziertes Körpervolumen nach sieben Monaten, bedingt durch fortgesetzte Austrocknung der Weichteile. Die Binden wurden nach drei Wochen nicht weiter angezogen. (Computersimulation)

Foto von Cambridge University Press, Uppsala University, Sweden

It takes a village: Der lange Prozess einer Mumifizierung

In einigen Fällen, berichten die Forscher, war die Beugung der Gliedmaßen so stark, dass ein zusätzliches stützendes Element, wie zum Beispiel eine Umhüllung erforderlich war, was erklären könnte, wie die Kadaver in engen Räumen platziert wurden.

Grundsätzlich erforderte die künstliche Mumifizierung viel Zeit. Die Vorbereitung des Körpers und das Austrocknen der Weichteile musste von mehreren Individuen betreut werden, mindestens einige Tage oder Wochen bis hin zu mehreren Monaten.

Der Wasserverlust des Körpers (Trocknung) musste zusammen mit heißen und trockenen Bedingungen in Verbindung mit kontinuierlicher Luftzufuhr überwacht werden. Eine Plattform musste gebaut werden, um den Körper anzuheben, damit Flüssigkeiten abfließen konnten, und ein Dach, um den leblosen Körper vor Regen zu schützen.

Die Reinigung des Körpers und das Einreiben mit Salben und Pflanzenextrakten, um Insekten abzuwehren und möglicherweise die bakterielle Aktivität zu hemmen. Das Einführen von Stöcken in den Anus und andere Körperteile ermöglichte es, Flüssigkeiten abfließen zu lassen und somit eine bakterielle Zersetzung des Körper zu stoppen.

Im Laufe der Zeit wurden anschließend Bandagen gestrafft (Trussing), um die anatomische Integrität des Verstorbenen zu stützen und zu erhalten, und gleichzeitig den beidseitigen Druck auf den Körper und die Beugung der Gliedmaßen zu erhöhen. Kurz gesagt, es handelt sich um einen komplexen und dauerhaften Umgang mit dem Leichnam, der für die Gemeinschaft sichtbar war und einen wesentlichen Teil ihrer Bestattungspraktiken ausmachte.

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