Modernes Ägypten: Eine Hauptstadt vom Reißbrett

Ägypten will seine Hauptstadt Kairo entlasten, indem es einen neuen Regierungssitz für sechs Millionen Bewohner aus dem Wüstenboden stampft – mit aller Macht.

Von Robert Draper
Veröffentlicht am 24. Okt. 2022, 17:21 MESZ
Ägyptens neue Hauptstadt vom Reißbrett

Ägypten will seine Hauptstadt Kairo entlasten und hat einen neuen Regierungssitz für sechs Millionen Bewohner errichtet. Die neue Smart City setzt auf grüne Energie und bargeldlose Zahlungssysteme. Und sie soll absolut frei von Kriminalität sein.

Foto von Youssef Abdelwahab

Als ich im Juni zum ersten Mal seit 15 Jahren nach Ägypten zurückkehrte, hatte ich Mühe, das Land wiederzuerkennen. Entlang des Nils in Kairo waren gerade die ersten eineinhalb Kilometer der Fußgängerpromenade Mamsha Ahl Misr eröffnet worden. Das nahe gelegene Viertel, das als Maspero-Dreieck bekannt ist, wurde einem drastischen Facelift unterzogen. Heruntergekommene Bereiche hatte man abgerissen, an ihrer Stelle sollen teure Eigentumswohnungen am Flussufer entstehen. Hunderte von Häusern auf der Nilinsel al-Warraq wurden mit Bulldozern platt gemacht, um Platz für Hotels zu schaffen. Die geschichtsträchtigen Hausboote auf dem Fluss wurden demontiert oder eines nach dem anderen abgeschleppt.

Ich verließ die Stadt und fuhr durch grünes Ackerland nach Norden, bis ich die Wüste um Alexandria erreichte. Die Straßen waren so neu, dass der Asphalt noch klebte. Erst vor vier Jahren war am Ufer des Mittelmeers westlich von Alexandria ein schickes Strandresort aus dem Boden gestampft worden, Neu-El-Alamein. Die 60 Milliarden Dollar teure Stadt vom Reißbrett soll drei Universitäten und einen Präsidentenpalast beherbergen. In dem gehobenen Neubauviertel Latin Quarter waren „Chalets“ am Meer mit vier Schlafzimmern für eine Viertelmillion Dollar im Angebot. Auf dem Rückweg nach Kairo steuerte ich ostwärts zu der Planstadt Neu-Kairo mit ihren glänzenden Bürotürmen und Nobelrestaurants. Die meisten davon waren seit meinem letzten Besuch wie Pilze aus der Ödnis geschossen, die einst die Arabische Wüste war. Die Stadt strahlte einen behäbigen Wohlstand aus, der eher an einen Vorort von Dallas erinnerte als an den lärmenden Pulsschlag Kairos.

Glitzernde Fassaden und neues Verkehrssystem

Eine weitere halbe Stunde weiter östlich, entlang einer noch nicht vollständig asphaltierten Autobahn, erstreckt sich der neue Regierungssitz. Die noch namenlose Hauptstadt, in der bisher nur ein Bruchteil der geplanten sechs Millionen Einwohner lebt, ist das Herzstück der ehrgeizigen Modernisierungspläne Ägyptens. In einem Jahr, vielleicht auch schon früher, werden auf einem Gebiet, das zuvor ebenfalls nichts als Wüste gewesen war, Tausende neuer Wohnhäuser glitzern. Die Stadt wird im Widerspruch zu dem alltäglichen Chaos stehen, für das Kairo berüchtigt ist. Alles wird hier geordnet sein, poliert – und gigantisch: Hier entstehen das höchste Bürogebäude Afrikas, die größte Moschee und die größte Kathedrale des Kontinents. Auch für Zerstreuung ist gesorgt: Museen, Restaurants und Einkaufszentren, ein mit Marmor opulent verziertes Opernhaus und eine Bibliothek mit mehr als fünf Millionen Büchern. Kairo und die Badeorte am Roten Meer werden von hier aus mit einem neuen Hochgeschwindigkeitszug mühelos erreichbar sein.

Al-Sisi verkündete 2015 sein kühnes Vorhaben, den Regierungssitz, die Botschaften und den gesamten Finanzdistrikt in die Wüste, etwa 45 Kilometer östlich von Kairo, zu verlegen. Er hatte die Öffentlichkeit nicht vorher eingeweiht, geschweige denn ein Referendum durchgeführt. Rund ein Zehntel der Regierungsangestellten wohnt bereits in der neuen Verwaltungshauptstadt; al-Sisi könnte Ende nächsten Jahres in den neuen Präsidentenpalast umziehen. Die von der Regierung veranlasste Massenumsiedlung ist Teil eines umfassenderen Umbaus des Landes. Millionen von Bürgern sollen in neu errichtete Städte umziehen, ein ausgeklügeltes Verkehrsnetz soll Kairo mit den landwirtschaftlichen Gebieten im Nildelta und der etwa 225 Kilometer entfernten Mittelmeerküste verbinden.

Al-Sisis Entscheidung, die Hauptstadt aus Kairo, dem Regierungssitz seit mehr als tausend Jahren, zu verlegen, beruht auf der nüchternen Erkenntnis, dass die Stadt eine tickende Zeitbombe ist, nicht in der Lage, ihre 20 Millionen Einwohner zu beherbergen, ganz zu schweigen von den vier Millionen, die täglich hinein- und herauspendeln. „Unser oberstes Ziel war es, Entlastung für die Überbevölkerung und den Verkehr zu schaffen“, erklärte Ahmed Zaki Abdin, der zum Zeitpunkt meines Besuchs für das Projekt verantwortlich war. „Die Bevölkerung Ägyptens wächst jedes Jahr um zwei Millionen Menschen. Bauarbeiten und Erweiterungen im ganzen Land sind daher unerlässlich.“ Mit einem Lächeln erinnerte er: „Wir sind Baumeister, seit der Antike, seit 5000 Jahren.“ Wie die neue Hauptstadt Ägyptens zeigt, ist der Aufbau von Zivilisation ein wesentlicher Bestandteil der Identität der 106 Millionen Ägypter – nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Der Anblick, den die Staat bot, glich eher einer überdimensionierten Baustelle als einer funktionierenden Stadt. Das St. Regis Almasa war noch immer das einzige Hotel. Mit ihm durch eine lange Fußgängerbrücke verbunden ist der Kunst- und Kulturbezirk, ein verblüffendes, größtenteils fertiggestelltes, 51 Hektar großes Areal mit gepflegten Gärten, Veranstaltungssälen, Galerien und Ateliers. Die unheimliche Stille in der Wüstenstadt, nur ab und zu vom Brummen der Baumaschinen unterbrochen, machte deutlich, wie schwierig das Projekt ist. Nur ein paar frisch gepflanzte Bäume standen in der trockenen Weite, die einmal der Stadtpark sein wird. Die Boutiquen hatten noch nicht eröffnet. Die Rohbauten hübscher Wohnsiedlungen mit international klingenden Namen wie El Patio Oro, La Verde und Celia standen reihenweise leer.

Autos und Menschen drängen sich täglich durch Kairo. Staus sind eine Plage in der überfüllten Metropole, die jedes Jahr um etwa 1,8 Millionen Einwohner wächst. Im Zuge des ägyptischen Baubooms werden einige ältere Stadtviertel abgerissen und neu gebaut.

Foto von Omar Elsharawy/unsplash.com

Investoren aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten

Als ich mit dem knarrenden Bauaufzug in den 52. Stock des ebenholzschwarzen Iconic Tower fuhr, hatte ich einen guten Überblick über die verschiedenen Viertel der neuen Hauptstadt, die entstehen sollten – für Unternehmen, für Diplomaten, für das Parlament, für die Ministerien der Regierung und für den Präsidenten. Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen hier Millionen Menschen wohnen. Im Moment besteht die Bevölkerung der Hauptstadt hauptsächlich aus Bauarbeitern, unter ihnen Tausende Chinesen, da die staatliche China State Construction Engineering Corporation den Zuschlag für den Bau des Iconic Tower erhalten hat. Ägypten verfügt über eine jahrtausendelange Erfahrung beim Bau monumentaler Hauptstädte, doch jetzt hat das Land sich Hilfe geholt. Ein französisches Unternehmen wird das Stromnetz betreiben, die deutsche Dorsch Gruppe die Wasser- und Abwassersysteme.

Das Projekt hat allerdings auch Rückschläge erlitten. Nicht lange nach unserem Gespräch trat Abdin zurück, vorgeblich aus gesundheitlichen Gründen. Begleitet wurde sein Rücktritt von Berichten über kostspielige Mängel in einigen der Gebäude. Die Regierung hat nur wenige Einzelheiten über das Projekt bekannt gegeben. Sie behauptet steif und fest, dass es die ägyptischen Steuerzahler nichts kosten werde. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben in beträchtlichem Maß investiert – und in der Tat heißt die Hauptverkehrsader der Stadt Muhammed bin Zayed Road, nach dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate.

Das glänzende, postmoderne Stadtbild der neuen Verwaltungshauptstadt wird jedem vertraut vorkommen, der schon einmal in Dubai war. Dennoch haben sich die Stadtgestalter Mühe gegeben, die ägyptische Geschichte widerzuspiegeln. Am Eingang des Kunst- und Kulturbezirks wurde ein Obelisk aus der Regierungszeit Ramses’ II. aus der einstigen Hauptstadt Tanis hergebracht und frisch restauriert. Der Obelisk ist beeindruckend – im Vergleich zum geplanten Oblisco Capitale allerdings winzig. Mit einer Höhe von einem Kilometer soll er der höchste Wolkenkratzer der Welt werden.

Ägyptens neue Smart City wird auf grüne Energie und bargeldlose Zahlungssysteme setzen. Und sie soll absolut frei von Kriminalität sein. Ein von der US-Firma Honeywell entwickeltes stadtweites Überwachungssystem soll die Regierung vor Protesten bewahren. Es soll eine Situation wie im Jahr 2011 verhindern, als das Regime von Hosni Mubarak stürzte.

BELIEBT

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    National Geographic Magazin, November 2022

    Foto von National Geographic

    Dieser Artikel erschien in voller Länge im National Geographic Magazin 11/22. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

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