3 Jahre nach der Explosion: Wie geht das Leben im Libanon weiter?

Wirtschaftskollaps. Eine verheerende Explosion. Eine Flüchtlingskrise. Politikversagen. Der Libanon stellt den unerschütterlichen Lebensmut seines Volkes auf eine harte Probe.

Von Rania Abouzeid
Veröffentlicht am 21. März 2023, 10:58 MEZ
Proteste im Libanon 2019

Schon vor der großen Explosion im Hafen von Beirut 2020 gab es Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Diese zeigte sich 2019 bei Massenprotesten, die sich anhand einer neuen Steuer auf WhatsApp-Telefonate entzündeten, sich dann aber insgesamt gegen steigende Preise und die Regierung richteten.

Foto von P.jowdy

Der Januarwind ist schneidend wie mein Schmerz. Die matte Wintersonne glitzert auf den schneebedeckten Bergen im Norden des Libanon, in denen der Heimatort meiner Mutter liegt. Das Friedhofstor öffnet sich knarrend, und ich lege das Porträtfoto meiner Mutter zu ihren Vorfahren. Sie ist zu Hause angekommen, zumindest symbolisch, nachdem sie eines Donnerstagmorgens im November unerwartet in Australien gestorben war. Dort hatte sie viele Jahre lang gelebt. So endete das Leben meiner Mutter dann doch, wie von Anfang an vorgesehen, in einer Heimat, die sie nie wirklich verlassen hatte. Es gibt Teile dieses Landes, die selbst wir in uns tragen, die wir nicht hier geboren sind. Wir tragen sie in unseren Namen, in unserem Essen, in unseren Geschichten und in unseren Familienbanden, die uns über Zeit, Entfernung und Generationen hinweg hierher zurückführen. 

Es gibt ein Lied von Fairouz, unserer geliebten nationalen Ikone, eine der berühmtesten arabischen Sängerinnen aller Zeiten. Es gehörte zum Soundtrack meiner Kindheit, die ich in Neuseeland und Australien verbrachte, während der Bürgerkrieg den Libanon von 1975 bis 1990 verwüstete. Ich verstand die Macht der Worte, die meine Eltern zum Weinen brachten, noch bevor ich ihre Bedeutung kannte. In „Nassam Alayna al Hawa“ fleht Fairouz den Wind an, sie nach Hause zu tragen, bevor sie an einem fremden Ort so alt wird, dass ihr Heimatland sie nicht mehr erkennt. 

Libanon: Eine nicht wiederzuerkennende Heimat

Bei der letzten Reise meiner Mutter in den Libanon im Sommer 2019 war es ihr Heimatland, das kaum noch wiederzuerkennen war. Trostlos, bedrückt, hoffnungslos. Der berühmte unbezwingbare Geist dahingerafft von einem dermaßen ruinösen wirtschaftlichen Kollaps, dass die Weltbank die Krise für eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts hält. Der Libanon mit seinen opulenten gemütlichen Mittagessen am Sonntag und den sommerlichen Staus, wenn ganz Beirut vor der brütenden Hitze in die kühlen grünen Berge oder ans Mittelmeer flüchtet – dieser Libanon war zu einem Land mit unterernährten Kindern und unsicherer Ernährungslage geworden. Treibstoff, wenn überhaupt aufzutreiben, war so absurd teuer, dass viele Menschen kaum noch zur Arbeit oder in die Schule gelangten. An Wochenendausflüge war gar nicht zu denken. 

Aufgebraucht war die Lebensfreude, die mich vor rund zwei Jahrzehnten bewogen hatte, als Journalistin in das Land meiner Ahnen zurückzukehren. „Rückkehr“, das bedeutete für mich, in einem Land zu leben, das ich weitgehend aus den rosarot gefärbten Erinnerungen meiner Mutter und meines Vaters kannte, aber auch von den Besuchen als Kind in ein Land, das sich selbst in Stücke riss. Meine Eltern verließen den Libanon kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Christen und Muslimen. Der Libanon, den sie mit sich nahmen, war das Land von Fairouz: zum Teil real, zum Teil eine Fantasie. So oft es ging, verbrachten meine Eltern mit ihrer jungen Familie monatelange Ferien im kriegszerrissenen Libanon. So wahnsinnig groß war ihre Sehnsucht nach einem Zurück.

Meine Erinnerungen an jene Besuche sind ein Wirrwarr von Gefühlen: Die Sanftheit und Geborgenheit in der Umarmung meiner Großmutter mütterlicherseits. Das Bauchweh nach ausgedehnten Nachmittagen mit meinen Cousins und Cousinen in den Obstgärten meines Großvaters, wo wir zu viele Trauben, Granatäpfel, Zitrusfrüchte und Feigen aßen. Die Druckwelle, die eine explodierende Autobombe auslöste. Die erdrückende Angst, wenn wir uns Militärposten näherten. Leuchtspurgeschosse, die elegante rote Bögen durch den Nachthimmel zogen. Meine Onkel wollten mir weismachen, es sei Feuerwerk. Nach dem Ende des Krieges Mitte der Neunzigerjahre kehrten meine Eltern in den Libanon zurück, doch sie konnten sich an den Nachkriegszustand nicht gewöhnen. 
 

Getreidesilos im Hafen von Beirut fingen den Druck der Explosion ab und bewahrten so den Westen der Stadt vor großflächigen Schäden. Die Libanesen hoffen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, rechnen aber nicht damit.

Foto von Rena Effendi/National Geographic

Die wilde und ungesunde Freiheit Beiruts

Ihr Idealismus kollidierte mit der Realität eines Landes, in dem Warlords im Parlament saßen und sich selbst Immunität für ihre Kriegsverbrechen verliehen. Diese Anführer, ihre Söhne und ihre designierten politischen Erben haben seit Kriegsende in allen wichtigen Bereichen das Sagen, angefangen bei der Besetzung von Ministerposten bis zu Berufungen auf hochrangige Positionen in der Justiz. Alles im Namen einer Proporzdemokratie, die die Macht nach Religionszugehörigkeit verteilt. Das sollte die friedliche Koexistenz fördern, verschärfte aber die soziale Spaltung, da es die konfessionelle und nicht die nationale Identität stärkte. 

Nach einigen Jahren in Beirut kehrten meine nicht konfessionell gebundenen und unpolitischen Eltern nach Australien zurück. Als ich mich dort niederließ, war der Libanon ein boomendes Land, obwohl er bis 2005 vom wesentlich größeren Nachbarn Syrien politisch und militärisch dominiert wurde. Beirut befand sich im Wiederaufbaurausch, die Restaurants waren brechend voll, das legendäre Nachtleben ausschweifend. Wieder war das Land die Spielwiese des Nahen Ostens, sein intellektuelles und literarisches Druckventil. Das Land hatte seine Probleme, doch die Menschen strahlten eine ansteckende, berauschende Lebensfreude aus. Ausbrüche von Gewalt hielten die Lage instabil. 

Doch in dieser Unbeständigkeit lag auch Dynamik. Beirut konnte einen wütend machen und war zugleich pulsierendes Chaos. Verkehrszeichen galten nicht selten als Vorschläge, das Bestechen von Beamten war alltäglich. In diesem Tollhaus lebte eine ungezügelte, ungesunde Freiheit. Doch trotz seiner vielen Schwächen musste ich dieses Land einfach lieben, ich konnte nicht anders. Seine Anziehungskraft wurzelte in der Vitalität seiner Menschen, die wild entschlossen an der Hoffnung festhielten – an diesem Ort, der ihnen immer wieder das Herz brach. 

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Foto von National Geographic

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