Geschlechterrollen in der Mode: Als Jungs noch pinke Kleider trugen

Rosa steht für Mädchen, Blau für Jungs – und Rüschen sind etwas für Frauen? Historisch gesehen: Blödsinn. Ein Blick auf die Geschichte von Kindermode und Geschlechterrollen.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 9. März 2023, 09:48 MEZ
Gemälde: Zwei Kinder in Kleidern stehen nebeneinander.

Dieses Gemälde aus dem 18. Jahrhundert zeigt einen Jungen, der ein grünes Kleid trägt. Seine Kleidung unterscheidet sich kaum von der des rechten Kindes, bei dem es sich vermutlich um ein Mädchen handelt.

Foto von Gemälde von Joseph Badger, 1708-1765

Ob Franklin D. Roosevelt oder König Charles II. – wer heute historische Kinderbilder bekannter männlicher Persönlichkeiten sieht, merkt schnell: Die Kindermode hat sich gewandelt, und zwar grundlegend. Denn ob Sprössling einer reichen New Yorker Familie im 19. Jahrhundert oder britischer Thronfolger im 17. Jahrhundert: Die Jungen trugen Kleider, oft auch die Farbe Pink. So unterschieden sie sich kaum von gleichaltrigen Mädchen.  

Zurückzuführen sind diese für uns heute ungewöhnlichen Outfits vor allem auf ein anderes Verständnis von Kindheit: Lange Zeit wurde beim Aussehen von Kindern nicht viel Wert auf binäre Rollenverteilungen gelegt. Ihre Körper mussten kein Geschlecht repräsentieren.

Das ist in vielen westlichen Ländern heute anders. Obwohl wir uns in einer Zeit befinden, in der traditionelle Rollenbilder scheinbar ausgedient haben, ist Kleidung für Kinder oft stärker gegendert denn je: Die Abteilungen für Mädchen sind voll mit Prinzessinen-Prints und Tüll, Rosa und Lila. Bei den Jungs gibt es Blau und Grün, dazu Superhelden und Bagger.

Wie kam es dazu? Und warum legen so viele Eltern heutzutage Wert darauf, dass andere sofort erkennen, ob ihr Kind ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen ist?

Dieses Kindheitsfoto des späteren 32. US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zeigt: Im 19. Jahrhundert trugen auch kleine Jungs noch Kleider. Auch ihre Frisuren waren kaum von denen kleiner Mädchen zu unterscheiden.

Foto von Fotografie 1884, Public Domain

Kindheit durch die Jahrhunderte

Melanie Haller forscht als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Paderborn schon lange im Bereich Mode und Gender. Laut ihr ist Kinderbekleidung immer auch ein Symbol dafür, wie eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit zu Kindern steht „und welche Konstruktion einer Vorstellung von Kindheit und Kinderkörpern vorherrscht.“ Mit diesem sich wandelnden Verständnis ändere sich auch die Art und Weise, auf die Kinder angezogen werden. 

Die Idee von der Kindheit als eigene Entwicklungsstufe existiert in Westeuropa erst seit dem 18. Jahrhundert. Davor galten Kinder als „kleine Erwachsene“, trugen oftmals ähnliche Kleidung wie ihre Eltern. Erst mit dem neuen Verständnis von der Kindheit als eine unschuldige, vom Erwachsenendasein getrennte Zeitspanne entwickelte sich überhaupt die Idee, dass Kinder eigene Kleidung brauchen – beispielsweise um rennen und spielen zu können.

„Diese Kleidung war zunächst auf Einfachheit und Praktikabilität angelegt“, sagt Haller. Zwischen den Geschlechtern machte sie keine großen Unterschiede: Lange Hemden oder Kleider wurden sowohl Jungen als auch Mädchen angezogen – weil sie am schnellsten angezogen waren. „Das Kleid ist das einfachste Kleidungsstück zum Überziehen – erstens für Babys, die sich noch nicht selbst bewegen können, und zweitens für Kinder, die laufen und Bewegungsfreiheit brauchen“, so Haller. Aus diesem Grund trugen sowohl Jungen als auch Mädchen kleidartige Überwürfe – wie auch Franklin D. Roosevelt im Jahr 1884.

Diese Art der Bekleidung repräsentiert zu jener Zeit zusätzlich die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern – unabhängig vom Geschlecht. „Menschen, die Hosen trugen, also Männer, waren die dominierenden Mitglieder der Familie und der Gesellschaft“, schreibt Linda Baumgarten in ihrem Buch What Clothes RevealAuch der gesellschaftliche Stand wurde durch die Kleidung der Kinder deutlich. Im Adel war es besonders üblich, durch Pink und Rot Macht zu symbolisieren. Durch Rüschen, Spitze und Stickereien, die die Kleider der Kinder zierten, wurde zusätzlich Reichtum gezeigt – unabhängig vom Geschlecht und bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein. Dagegen trugen Kinder aus nicht-adeligen Haushalten einfachere Kleider. 

BELIEBT

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    Kinderbild des englischen Königs Charles II. aus dem Jahr 1630. Die Kleidung, die auf Porträts getragen wurde, sollte damals repräsentativ für die Macht und das Ansehen des Königshauses stehen.

    Foto von Justus van Egmont , 1602–1674
    Rechts: Unten:

    Dieses Bild aus dem 19. Jahrhundert zeigt einen kleinen Jungen im Kleid. Sowohl die verspielten Elemente des Kleides als auch die rosa Farbe galten zu jener Zeit nicht als mädchenhaft.

    Foto von Anonym, ca. 1840 / Wikimedia / Public Domain

    Breeching und das Tragen von Hosen

    Lange Zeit ging es bei dem Einkleiden von kleinen Kindern also vor allem darum, dass sie angezogen wurden. „Das Verständnis von Kinderkleidung war: Sie muss kindgerecht sein und zum Spielen taugen. Das war überhaupt nicht normativ in Bezug auf Geschlechter“, so Haller. Trotz der stark binär codierten Geschlechterrollen in der Welt der Erwachsenen schwappten diese Ideen in Bezug auf Kleidung erst später auf das Kind über, nämlich sobald dieses in der damaligen Gesellschaft nicht mehr als Kind galt.

    Für diesen Moment gab es Rituale – wie das sogenannte Breeching. Damit bezeichnete man den Moment, in dem Jungen von Kleidern zu Hosen, auch breeches genannt, wechselten. „Dieser Kleiderwechsel zeigte: Jetzt ist er kein Kind mehr, sondern ein Erwachsener“, sagt Haller. Das Alter, mit dem dieser Wechsel vollzogen wurde, änderte sich durch die Jahrhunderte. Zeitweise fand das Breeching bereits mit sieben oder acht Jahren statt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann eher mit 12 oder 13. 

    Zu jener Zeit im 20. Jahrhundert gab es dann eher einen Wechsel von der kurzen zur langen Hose – die Hose hatte sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam als gängigstes Kleidungsstück für Jungen durchgesetzt. Das lag vor allem daran, dass das Kleidungsangebot insgesamt erweitert und die Praktikabilität von Hosen erkannt wurde. So sehr, dass sogar Mädchen bereits Hosen tragen durften, obwohl sich die Hose für Frauen zu jener Zeit noch nicht durchgesetzt hatte.

    Geschlechterrollen in kapitalistischen Gesellschaften

    Die strenge Farbaufteilung, die man heute kennt – Pink für Mädchen, Blau für Jungen –, die vor allem im US-amerikanischen Raum bei den sogenannten Gender Reveal Parties stark eingehalten wird, ist eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts. Zuvor war die Aufteilung einerseits weniger streng und andererseits war die Konnotation der Farben noch eine andere. „Rot galt sehr lange als eine maskuline Farbe“, sagt Haller. Die Farbe war als „kleines Rot” deshalb eher Jungen vorbehalten – vor allem im Adel, in dem die Farbe durch die Assoziation mit dem Kriegsgott Mars Macht ausdrücken sollte. Gerade Jungen aus Königshäusern und aus dem Adel wurden zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert deshalb oft in roten oder pinken Kleidern dargestellt. Mädchen hingegen wurde eher die Frabe blau zugeordnet, die mit der Jungfrau Maria assoziiert wurde. So streng wie heute wurde die Unterscheidung Pink vs. Blau damals allerdings nicht eingehalten.

    Wirklich Fuß gefasst hat die stark gegenderte Kinderbekleidung erst in den letzten Jahrzehnten. Zwar gab es während und nach der Zeit des Zweiten Weltkriegs bereits stärker differenzierte Kinderkleidung, auch aufgrund der stark gegenderten Ideologie der Nazis. Diese brach allerdings während der 60er- und 70er-Jahre vor allem in Bezug auf Kinder wieder auf. Nachdem in den 40ern streng gekämmte, kurze Haare für Jungen und lange Zöpfe für Mädchen als Ideal galten, waren lange Haare und kurze Hosen in den 1970ern sowohl bei Jungen als auch Mädchen üblich. 

    In den 1970er-Jahren erreichte die unisex Kindermode nach der strengeren Geschlechtereinteilung der 1940er- und 50er-Jahre einen Höhepunkt. Sowohl Frisuren als auch Kleidung ließen kaum auf das Geschlecht der Kinder schließen.

    Foto von Bundesarchiv, Bild 183-P0829-0018 / Katscherowski, verehel. Stark / CC-BY-SA 3.0

    Die starke Binarität, wie wir sie heute in der Kindermode kennen, kam erst im 21. Jahrhundert auf. „Aktuell ist es wieder so, dass der Kinderkörper durch die Kleidung sehr stark gegendert wird“, sagt Haller. Auch Annamari Vänskä, Professorin für Modeforschung an der Aalto-Universität in Finnland, weist in ihrem Buch Fashionable Childhood auf diese Entwicklung hin: „Zeitgenössische (Kinder-)Kleidung macht auf das Geschlecht aufmerksam, so dass man meist auf den ersten Blick erkennen kann, ob es sich um eine Frau oder einen Mann, ein Mädchen oder einen Jungen handelt“, schreibt sie. 

    Haller verweist in diesem Zug auf die Aufdrucke und Farben, vor allem jedoch auf die unterschiedlichen Schnittformen der Kleidung für Jungen und für Mädchen. So würden Oberteile für Mädchen beispielsweise bereits sehr früh tailliert, obwohl ihre Körper sich noch gar nicht von den Körpern gleichaltriger Jungen unterscheiden. „Man sieht ganz klar, dass es da eine Sexualisierung des Kinderkörpers gibt, bezogen auf die Idee, dass er schon in jungen Jahren binär codiert ist.“ 

    Zurückzuführen ist diese Entwicklung vor allem auf kapitalistische Strukturen und Bekleidungsunternehmen: Ähnlich wie bei Spielzeug oder Kosmetik lässt sich durch die klare Trennung von Produkten in weiblich und männlich mehr Profit erzielen. „Firmen haben gemerkt, dass starkes Gendern dazu führt, dass sie mehr verkaufen können – weil die Produkte differenzierter sind“, so Haller. Wenn Eltern beispielsweise ein Mädchen und dann einen Jungen bekommen, sei der Drang, den Kindern verschiedene Kleidung zu kaufen, größer. Diese Marketing-Strategie zeigt sich beispielsweise auch bei Kosmetikprodukten. Verschiedene Shampoos für Mädchen oder Jungs in Pink und Blau oder Cremes, die speziell für Männer oder Frauen angefertigt sein sollen, führen dazu, dass viele Dinge doppelt gekauft werden.

    Auswirkungen auf zeitgenössische Geschlechternormen 

    “Wir haben aktuell ein fast schon tradiertes, sehr konservatives Geschlechterbild in der Kindermode.”

    von Melanie Haller
    Kulturwissenschaftlerin an der Uni Paderborn

    Laut Haller steckt hinter der stark gegenderten Kindermode von heute auch immer eine Normativität in Bezug auf Geschlechterrollen. „Wir haben aktuell ein fast schon tradiertes, sehr konservatives Geschlechterbild in der Kindermode. Da schwingt für die Kinder auch eine Idee von Rollenbildern mit – also was für Kinder sie sind und was für Erwachsene sie sein sollen“, sagt sie. 

    Während also in der Sprache am Gendern gearbeitet wird und mittlerweile anerkannt ist, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt, wurden in der Kindermode eher Rückschritte gemacht. Denn oft reproduziert Kindermode patriarchale Normen, die im Endeffekt sowohl Jungen als auch Mädchen einschränken. Gerade Jungen, die gerne Kleider tragen oder sich schminken, passen nicht in das strikte Rollenbild westlicher Länder. „Sich schön machen, das Schmücken und mit Kleidung spielen wird in der bürgerlichen Moderne sehr stark mit Weiblichkeit gleichgesetzt”, sagt Haller.  Gleichzeitig wurden Weiblichkeit und das Frau sein lange Zeit und bis heute herabgesetzt.

    Simone de Beauvoir beschrieb dies bereits im Jahr 1949 in Das Andere Geschlecht: In der bürgerlichen Moderne gelten Männer als das vergeistigte Subjekt, Frauen hingegen als das Objekt, das sich für den Mann präsentiert. Elemente wie Rüschen, Spitze oder Stickereien und Farben wie Pink und Rosa tauchen daher auch in der Kinderkleidung heutzutage überwiegend bei Mädchenkleidern auf – im Gegensatz zu Jungen wird bei ihnen schon früh Wert auf das „schön aussehen“ gelegt.

    Mode als Spielort eines Kulturkampfes

    Besonders in den letzten zehn Jahren wurden Stimmen lauter, die sich gegen das Aufbrechen von Geschlechterrollen wehren – auch in Bezug auf Kleidung. Die AfD spricht sich in gleich mehreren Wahlprogrammen gegen das „Gender-Mainstreaming” und für traditionelle Rollenbilder aus. Beatrix von Storch, die der AfD angehört, kritisierte im Jahr 2017 Bilder von männlichen Models auf der New York Fashion Week mit den Worten „Früher war mehr Mann“ – weil die Models make-up und Rüschen tragen.

    Laut Haller kann man an diesen Diskussionen über Männer, die sich traditionellen Erwartungen an ihr Aussehen entziehen, sehen, wie sehr sich starre Geschlechternormen in einigen Teilen der Gesellschaft wieder gefestigt haben. Die aktuelle Kindermode trage zum Erhalt dieses binären Geschlechterverständnis zusätzlich bei. Vänskä schreibt: „Die Art und Weise, in der Kinder gekleidet sind, erzeugt eine kontinuierliche geschlechtsspezifische Interpretation, da die Kleidung die Aufmerksamkeit auf den Körper und die körperlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen lenkt.“

    Dabei biete Mode auch genau die gegenteilige Möglichkeit: mit Geschlechterrollen und Erwartungen zu experimentieren – und die Binarität, die Kleidung zugeschrieben wird, aufzulösen. Bei Kinderkleidung war das immerhin sogar in einer Zeit möglich, in der Geschlechterrollen ansonsten besonders strikt eingehalten und eingefordert wurden.

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