Ausweg aus dem Pflegenotstand: Geht es nur mit Zuwanderung?

Ohne Zuwanderer wäre die deutsche Bevölkerung schon seit 1972 massiv geschrumpft. Vor allem ältere Menschen sind auf die Hilfe der Zuwanderer angewiesen.

Von Julia Graven
Veröffentlicht am 24. Apr. 2023, 11:37 MESZ
Seniorin und Pflegekraft

Ohne Zuwanderer wäre die deutsche Bevölkerung schon seit 1972 massiv geschrumpft. Vor allem ältere Menschen sind auf die Hilfe der Zuwanderer angewiesen.

Foto von Shutterstock

Es ist ein sonniger und viel zu warmer Februartag am Fuße des Watzmanns. Die jungen Frauen mit den langen schwarzen Haaren sitzen dennoch in Winterjacken mit Fellkapuze an ihren Schulbänken. Ihr Mitschüler Phan Van Thang, 23, stellt an der digitalen Tafel den Fall vor, den er für seine Präsentation vor der Klasse bearbeitet hat. Es geht um Notfallsituationen. „Der Patient erbricht leicht grünlich und kaffeesatzartig“, liest Thang stockend vor. „Das Stocken täuscht“, sagt Michael Krajnc, der Leiter der Berufsfachschule für Pflege, die aktuell 30 Vietnamesinnen und Vietnamesen ausbildet. „Die verstehen alles zu 100 Prozent“, so Krajnc. 

Für die Bewohner des Diakoniewerks Hohenbrunn sind die jungen Männer und Frauen mit den schwarzen Haaren mittlerweile ein vertrauter Anblick. Sie wohnen in einem Haus auf dem weitläufigen Gelände, zwischen Kindergarten und Pflegestation. Auch ihre Schule ist hier untergebracht. Drei Jahre lang absolvieren die Asiaten in Theorie und Praxis ihre Ausbildung zur Pflegefachkräften, daneben haben sie zwei bis dreimal pro Woche Deutschunterricht. 

Nur einer von sieben Auszubildenden kommt aus der Region

Für Rocco Eidam, der die Bereiche Senioren und Pflege leitet, sind die Vietnamesinnen und Vietnamesen ein Hoffnungsschimmer. Ihm ist schon lange klar, dass seinem Arbeitgeber ein massives Problem droht: Zum einen steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Zum anderen gehen viele der rund 270 meist langjährigen Mitarbeiter bald in Rente – Nachwuchs ist nicht in Sicht. „Stellenanzeigen schalten und abwarten – das funktioniert nicht mehr“, sagt Eidam. Er stellt seinen Arbeitgeber auf Jobmessen vor, geht in Schulen, bietet Praktika an – doch neue Mitarbeiter oder Auszubildende findet er vor Ort trotzdem kaum. Nur einer der sieben Pflege-Auszubildenden, die im Sommer hier angefangen haben, stamme aus der Region, erzählt er. 

Die anderen sechs kommen aus dem 11000 Kilometer entfernten Vietnam. Was Rocco Eidam im äußersten Südosten der Republik zum Handeln drängt, ist beispielhaft für ganz Deutschland. Die Bevölkerung wird immer älter. Seit vielen Jahren sterben mehr Menschen, als geboren werden. Der Generationenvertrag ist gefährdet, wenn es immer weniger Einzahler und mehr Bezieher von Leistungen gibt. Aktuell gehen die Babyboomer in Rente. Die meisten haben genügend Geld und Gesundheit, um den Ruhestand erst einmal zu genießen. Doch irgendwann brauchen sie Hilfe. Laut Pflegereport der Bertelsmann Stiftung könnten schon 2030 500000 Pflegekräfte fehlen. Rocco Eidam sagt: „Es brennt an allen Ecken und Enden. Ohne Migration kommen wir in eine kritische Versorgungssituation.

In gut zehn Jahren werden in Deutschland 20 Millionen Menschen im Rentenalter leben, sagt Olga Pötzsch, Expertin für demografische Analysen und Modellrechnungen am Statistischen Bundesamt. In den Jahren danach werde die Zahl der Menschen über 80 „massiv zunehmen“. Gleichzeitig gibt es weniger Menschen im Erwerbsalter, die Junge und Ältere „mitversorgen“. Wie es dann weitergeht? Unsicher. Migration werde die entscheidende Größe sein, die über eine Zu- oder Abnahme der Bevölkerung entscheidet, so Pötzsch. 

Steigende Zahl an Pflegebedürftigen

Auf seiner Suche würde Eidam sich mehr Unterstützung wünschen. „Greifbare und vor allem zeitnahe Lösungen trotz vieler politischer Netzwerke bietet die Politik auf Landes- und Bundesebene bisher nicht“, klagt er. Arbeitgeber fordern, die Blue Card, mit der etwa IT-Experten in die EU kommen, müsse auch für Pflegekräfte gelten. Der Freistaat Bayern will mit einer zentralen Stelle für die Einwanderung von Fachkräften die Verfahren beschleunigen. Und auch die Bundesregierung plant Zentren unter anderem in Nordafrika und dem Nahen Osten, die über legale Wege für Fachkräfte nach Deutschland informieren sollen. „Es ist angekommen, dass wir ohne Anwerbung nicht zurechtkommen“, sagt Olga Pötzsch. Schließlich werde die Zahl der Pflegebedürftigen voraussichtlich weiter steigen. 

Doch nicht an allen Problemen sei die Demografie schuld. „In der Pflege geht es auch um Bezahlung und Arbeitsbedingungen“, sagt sie. Ohnehin können ausländische Kräfte die Lücken auf dem Arbeitsmarkt nur vorübergehend schließen. Irgendwann kommen auch Migrantinnen und Migranten ins Rentenalter. Bis zur Rente ist es für die Auszubildenden aus Vietnam noch ein weiter Weg – und es ist unklar, wohin er sie führen wird. Im Sommer absolvieren die ersten beiden asiatischen Pflegefachfrauen ihre Prüfungen. „Wir sind sehr daran interessiert, dass sie bei uns bleiben“, sagt Bianka Sauerwein. „Ich persönlich finde den Umgang spannend“, ergänzt sie. „Und ich finde es auch für unsere Bewohner schön, dass es hier ein bisschen bunter geworden ist.“ 

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